Essay
»Unermüdet von diesem Schauen«
Über die Rolle der Bilder in den Naturwissenschaft
I. Bilder in und aus der Wissenschaft
Das Verbindende zwischen Universität und Kunst wird in diesem Beitrag aus naturwissenschaftlicher Sicht betrachtet. Die Universität wird dabei als Ort für Wissenschaft und Forschung verstanden, an dem es heutzutage zur selbstverständlichen Pflicht aller daran Beteiligten gehören sollte, die Öffentlichkeit über die erzielten Ergebnisse und ihre Bedeutung zu informieren. Die Vermittlung von wissenschaftlichen Einsichten gelingt oft mit Hilfe von Bildern, und deren Rolle soll in diesem Aufsatz beleuchtet werden, wobei sich herausstellen wird, daß die Bilder nicht erst bei der Weitergabe von wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern schon bei ihrer Gewinnung eine Rolle spielen. Da sich Bilder den Menschen über die Wahrnehmung erschließen, wird diese Fähigkeit ausführlich zur Sprache kommen.
Die besondere Bedeutung der Bilder zeigt allein die immer wieder gestellte Frage nach dem Weltbild der Wissenschaft bzw. nach dem Menschenbild der modernen Genetik. Es würde sich lohnen, der These nachzugehen, daß die ethischen Schwierigkeiten der modernen Forschung dadurch möglich werden, weil weder die Physik ein Weltbild – etwa im Sinne der Newtonschen Mechanik – noch die Biologie ein Menschenbild erkennen läßt. Die am nachhaltigsten von Immanuel Kant gestellte Frage »Was ist der Mensch?« kann weder durch Angabe von DNA-Sequenzen noch durch Hinweise auf genetische Programme beantwortet werden. Der Entwurf eines adäquaten Menschenbildes, das über Maschinenmodelle hinausgeht, bleibt eine dringliche Aufgabe, die vielleicht mit Hilfe der Kunst gelöst werden kann. Wir können uns ihr nur langsam nähern.
II. Beim Betrachten von Bildern
Welchen direkten Einfluss Bilder bzw. Gebilde der Wissenschaft auf einen Betrachter und sein Verstehen haben können, zeigt das Beispiel von Thomas Mann, der am 4. Oktober 1951 nach einem Besuch des Museum of Natural History in Chicago folgende Bemerkung in sein Tagebuch einträgt: »Unermüdet von diesem Schauen. Keine Kunstgalerie könnte mich so interessieren.«[1] Thomas Mann bewundert in den biologischen Sammlungen des Museums faszinierende Querschnitte von »sehr frühen Muscheln in feinster Ausarbeitung des Gehäuses«, er schaut auf »wunderschöne zoologische Modelle aller Art«, und er betrachtet die eindrucksvollen »Skelette der Reptil-Monstren und gigantischen Tiermassen«, die früher die Erde beherrschten. Dies ergreift ihn ungemein, und im ungestörten Gegenüber mit diesen Figuren und den vielen dazugehörigen Bildern, die dem Betrachter die Entwicklung des Lebens und die Evolution des Menschen vor Augen führen, wird Thomas Mann immer tiefer berührt. Er empfindet ein ungeheures Vergnügen. Ihn überkommt »etwas wie biologischer Rausch«, und mit überraschender Deutlichkeit erfasst ihn das »Gefühl, daß dies alles meinem Schreiben und Lieben und Leiden, meiner Humanität zum Grunde liegt«. Thomas Mann ist außerordentlich »bewegt von alldem«, und er kehrt am Morgen des nächsten Tages in das Museum zurück, um sich viele weitere Bilder »frühmenschlichen, zum Teil noch kaum menschlichen Lebens« vor Augen zu führen.
Es ist sicher vor allem das Biologische, das den Betrachter im Museum berauscht sein läßt und ihm Erkenntnisse nicht durch Rationalität, sondern durch sinnliche Wahrnehmung und Gefühle ermöglicht, doch benötigt Thomas Mann dazu die musealen Modelle und besonderen Bilder, die ihn anregen und anrühren, und es lohnt sich, den genauen Gründen für deren weitreichenden Wirkungen nachzuspüren, die uns allen möglich und vertraut sind.
III. Das erweiterte Sehen
Menschen sind visuell begabte Lebewesen, die sich durch – wörtlich zu verstehende – Augenblicke orientieren. Aus diesem Grunde ist es verständlich, daß immer schon Bilder und Illustrationen eine Rolle in der Wissenschaft gespielt haben. Wer will, könnte sogar einen Grundzug der technischen Entwicklung in unserer Kultur dadurch charakterisieren, daß er auf die zunehmenden Bemühungen verweist, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Diese Bemühungen beginnen pünktlich im 17. Jahrhundert, also genau in der Epoche unserer Geschichte, in der die moderne westliche Wissenschaft insgesamt entsteht, und im Grund drücken beide Entwicklungen ein- und denselben Charakterzug unserer Kultur aus, nämlich den, sehend wissen zu wollen. Mit dem wissenschaftlichen Menschen wird auch das technische Bild unvermeidlich.
Die Bemühungen um das erweiterte Sehen sind ein Wesenszug des europäischen Wissenwollens, in dessen Rahmen Menschen versuchen, sich mit dem Mikroskop die kleinen und mit dem Fernrohr die großen Dimensionen vor Augen zu führen. Erst schlägt ein Deutscher – Johannes Kepler – einen Weg vor, um ein zusammengesetztes Mikroskop zu bauen, danach benutzt ein Engländer – Robert Hooke – ein entsprechendes Gerät, um »Zellen« in Dünnschnitten von Flaschenkork zu finden und zu benennen, und schließlich entdeckt ein Holländer – Antonie van Leeuwenhoek – beim vergrößerten Sehen die winzigen (eben »mikroskopischen«) Formen des Lebens, die wir Protozoen und Bakterien nennen.