Solch eine gefällige Selbstfindung wirkt auf den ersten Blick wenig wissenschaftlich, bestand doch lange Zeit hindurch das Ideal der Naturwissenschaften in der vollständig objektiven Beschreibung der Wirklichkeit, das heißt in der Darstellung einer Welt, in der ein Ich – in der ich – nicht vorkomme. Der Wissenschaftler selbst schien in seinen Theorien ebensowenig vorzukommen wie der Photograph in seinen Bildern, weshalb es ja auch heißt, daß Kameras mit einem Objektiv ausgerüstet sind. Bei aller Bedeutung dieses Ziels wird aber heute immer deutlicher spürbar, daß die dazugehörige theoretische und objektive Wissenschaft etwas ist, zu dem Menschen kaum eine Beziehung entwickeln können und das sich ihrer Wahrnehmung entzieht. Sie können sich nicht in sie hineinversetzen und also sich selbst darin nicht finden. Und es gibt gute Gründe für die Vermutung, daß die in westlichen Gefilden nur höchst mangelhaft ausgeprägte ästhetische Weise des Erkennens und das damit einhergehende Übergewicht des theoretischen Vorgehens nicht ganz unbeteiligt an dem allgemeinen Unbehagen und einem korrespondieren Unverständnis ist, auf das die moderne Wissenschaft mehr und mehr stößt. Es wäre also höchste Zeit, an die primär ästhetischen Absichten zu erinnern, die jedem Wissenserwerb zugrunde liegen und die das Forschen von Anfang an mühelos menschlich machen.
VI. Ethik und Ästhetik
Unter diesem Blickwinkel lassen sich vermutlich auch geeignetere Sichtweisen auf die vielen ethischen Probleme gewinnen, mit denen die moderne Wissenschaft – aktuell besonders die Genetik und die dazugehörige Biomedizin – zu tun haben. Der Gedanke ist dabei nicht neu, denn bereits 1949 hat Adolf Portmann über »Biologisches zur ästhetischen Erziehung« gesprochen und seine Zuhörer daran erinnert, daß es neben dem hochgelobten rationalen Denken und seiner Fähigkeit zur wissenschaftlichen Analyse, die er als »theoretisch Funktion« des Menschen zusammenfaßte, als komplementäres Gegenstück auch die »ästhetische Funktion« gebe, die mit der Eindrücken der Sinne – also mit der Wahrnehmung – zu tun habe und so vielleicht besser als »Grundlage des menschlichen Verhaltens« in Frage käme – besser jedenfalls als die theoretische Funktion, die – so meinte Portmann – für den »Krisenzustand« verantwortlich zu machen war, in dem sich die »Zivilisation des Abendlandes« seiner Ansicht damals erneut befand und sich vielleicht heute immer noch befindet.
Der Vortrag »Biologisches zur ästhetischen Erziehung«[8] versucht, die in allen Menschen gegenwärtige »künstlerische« Seite zu wecken. In Portmanns leider kaum mehr gegenwärtigen Texten finden sich unter anderem folgende Sätze:
»Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Stärkung der ästhetischen Position ist nicht gerade weit verbreitet – allzu viele machen noch immer die bloße Entwicklung der logischen Seite des Denkens zur wichtigsten Aufgabe unserer Menschenerziehung. Wer so denkt, vergißt, daß das wirklich produktive Denken selbst in den exaktesten Forschungsgebieten der intuitiven, spontanen Schöpferarbeit und damit der ästhetischen Funktion überall bedarf; daß das Träumen und Wachträumen, wie jedes Erleben der Sinne, unschätzbare Möglichkeiten öffnet.«
Portmann meint nicht, daß die Wissenschaft bzw. die Menschen der westlichen Welt die Hypertrophie des Verstandes durch einen »Umschlag ins Schwärmen« ablösen bzw. ersetzen sollten. Das Ziel sei vielmehr »ein harmonisches Gleichgewicht, ein glücklicherer Mensch« – und zwar durch Erkenntnis, die als Beglückung bzw. Erfüllung und nicht als Mittel zu einem nützlichen Zweck angesehen werden muß. Der angestrebte Einklang kann erreicht werden, wenn man die sinnliche Form des Erkennens, die Ästhetik, der logisch-verstandesgemäßen Form an die Seite stellt bzw. sich wenigstens daran erinnert, daß die Möglichkeit dazu besteht. Sie steckt nämlich in allen Menschen, wie Gottlieb Alexander Baumgarten in der Mitte des 18. Jahrhunderts festgehalten hat, als er seine oben erwähnte Theorie des sinnlichen Erkennens vorlegte und versucht hat, dem Wort »Ästhetik« seine eigentliche Bedeutung zu geben. Wer sich nämlich auf Baumgartens Programm einläßt, muß auch die dazugehörenden moralische Konsequenzen ziehen. Sie bestehen darin, daß sich in der Schönheit die Wirklichkeit als Werttatsache zeigt: Sie fordert unmittelbare Achtung und weckt Scheu – und überwindet so die Kluft zwischen Sein und Sollen, die als dogmatische Setzung der alten Schule einer wertfreien Wissenschaft entstanden ist. Die erwähnte Kluft existiert im Kontext der Wahrnehmung nicht, wie zum Beispiel Hans Jonas erklärt hat. So wissen doch alle Eltern (und nicht nur sie), die ihr (oder ein) Kind ansehen, daß sie ihm helfen müssen und für es verantwortlich sind. Sein und Sollen sind bei einem Neugeborenen untrennbar voneinander. Im »Prinzip Verantwortung« findet Jonas »das elementare »Soll« im »Ist« des Neugeborenen«, dessen bloßes Atmen von den Mitmenschen verlangt, sich seiner anzunehmen. Diese Einsicht faßt der Philosoph in dem schönen Satz zusammen, »Sieh hin und du weißt«[9].