Wer zum aktiven Teilnehmer einer community wird, gibt quasi sein »Gesicht« frei, macht sich selbst zur öffentlichen Person und wird dadurch angreifbar und zwar immer dann, wenn »das Gesicht nicht gewahrt« bleibt, entweder durch negative Bewertung oder aggressive Formen der Zurückweisung. Der Kommentator äußert nicht einfach seinen Standpunkt oder seine Meinung, er erhebt sich quasi selbst zum legitimen Gutachter und versucht den anderen in eine Position zu drängen, sei es durch Bewertung des Mitgeteilten oder ganz direkt der mitteilenden Person. Wer Handlungen oder Äußerungen kommentiert, begibt sich in eine Position, die den Eindruck hinterlässt, man könne den anderen einen Platz im sozialen Raum zuweisen.
Auf konkrete Beispiele kann an dieser Stelle verzichten werden, da auch die Wiederholung der negativen Äußerungen zu ihrer Verbreitung beitragen würde. Allgemein lässt sich jedoch eine sich wiederholende Machart solcher Verletzungen feststellen: Immer erhebt sich jemand über andere, um sie zurückzuweisen. Und selbst wenn der erste Kritiker sich noch relativ harmlos ausdrücken sollte, kann er der Auslöser für sich von Kommentar zu Kommentar steigende Aggressionen werden.
Freilich hat nicht jede Form des verletzenden Wortes oder auch der Hassrede die Macht, Effekte auszulösen. Immer stellt sich die Frage, ob sich der Angesprochene überhaupt angesprochen fühlt, vor allem, wenn der Akt keine weiteren Kommentare nach sich zieht. Immer aber wird der Angesprochene in eine Position gedrängt, so dass trotzdem von der Verletzungskraft solcher Worte und Bilder ausgegangen werden kann. Philosophisch gesehen hat dies freilich etwas damit zu tun, dass der Mensch ein sprachliches Wesen ist. Mit Judith Butler kann man daher fragen, ob uns Sprache vielleicht deshalb verletzen kann, weil die Sprache der Stoff ist, der den Menschen zum sozialen Wesen macht. Das Miteinander erst konstituiert unseren sozialen Status, weshalb wir vom Umgang der anderen Subjekte mit uns abhängig sind, wir konstituieren die Welt durch Sprache. Die Sprache selbst hat Begriffe dafür, warum der Mensch auch durch sprachliche Mittel verletzt werden kann. Wir müssen uns bewusst sein, dass auch körperliche Gewalt einen symbolischen Charakter hat. Wer uns körperlich angreift, wer handgreiflich wird, verletzt selbstverständlich unseren Körper, aber er zielt immer auch auf unsere Integrität, er will uns materiell, aber auch in unserer sozialen Existenz schädigen. Jemanden bewusst zu verletzen, heißt, ihn abzuwerten, mithin ihn gering zu schätzen, deshalb benutzen wir sprachlich als Pendant zur physischen Gewalt Begriffe wie »Jemandes Gesicht in den Schmutz ziehen« oder »Jemanden in die Knie zwingen«, wie Elena Petojovic in einer philosophischen Arbeit zur Thematik herausgearbeitet hat.[15]
Daher sei noch einmal betont: Formen der Missachtung von anderen sind immer Formen von Verletzungen. Alle angeführten Beispiele sind jedoch nur Schlaglichter, schon die Erwähnung der vielen mittlerweile entstandenen Studienarbeiten macht deutlich, wie viele zahlreiche Belege im Netz zu finden sind. Bis hier ging es aber nur darum zu beschreiben, was Verletzung heißen kann, wieso solche Worte und Bilder verletzen, wie sehr die Schamgrenze zu verletzen gesunken ist. Was aber lässt sich dagegen tun? Alicia Sommerfeld wollte diese Frage jenseits juristischer Lösungen bearbeiten.[16] Sie beschäftigte sich kritisch mit Butlers Vorschlag, negative Äußerungen umzudeuten. Das genaue Konzept soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden, sondern die wichtige Frage herausgehoben werden: Wer hat wirklich die Macht, Sprache verletzende Wirkung zu nehmen? Auch für das Gelingen gibt es Beispiele: Homosexueller ist längst kein Schimpfwort mehr, die »Kannak Attack« hat gezeigt, wie Zuschreibungen umgewertet werden können. Aber ein wirklicher Schutz ist so noch nicht gefunden.
4 Offene Fragen
Der Raum des Internets ist im Grunde ja ein virtueller Raum, und jeder, der dort mit Avataren oder Nicknames agiert, kann sich leichter entfernen, als dies in offenen, face-to-face geführten Diskussionen der Fall ist. Schützt Anonymität also eventuell die Falschen, wäre die Forderung nach Klarnamen so begründbar?
Ganz kurz erwähnt habe ich die Verwendung von Trolls und Blogs. Wie aber wollen wir damit umgehen, dass diese immer größeren Einfluss auf die Entwicklung von Überzeugungen haben, wie also gehen wir mit einem durch Algorithmen gesteuerten Diskurs um? Zu oft wird vergessen, dass reale Welt und virtuelle Welt sich längst überschneiden; welchen Einfluss aber wird dies auf das kommunikative Miteinander haben? Mit Hannah Arendt gefragt: Schwindet das, was wir Öffentlichkeit nennen, immer mehr, und sind die Verletzungen durch Worte nicht auch ein Hinweis auf das Schwinden demokratischen Denkens?
Ich weiß, dies sind eher kulturpessimistisch gestellte Fragen, und so hoffe ich freilich, dass wir gemeinsam die besseren zukunftsweisenden Antworten finden. Die beste Antwort auf die Frage, warum wir Sprache nicht als Mittel der Verletzung nutzen sollten, habe ich in einem Vortrag von Judith Butler gehört: einfach weil wir es können.
- [15] Petojovic, Elena: Verletzen durch Worte. Unveröffentlichte Masterarbeit an der Universität Koblenz-Landau 2015.
- [16] Sommerfeld, Alicia: Erörterungen sprachlicher Gewalt. Dimensionen eines kulturellen Phänomens und Diskussion von Judith Butlers Konzept der Resignifizierung als Möglichkeit sprachlichen Widerstands. Unveröffentlichte Masterarbeit 2016.