Mythen des Alltags
Einkaufszettel
Über die Poesie von Listen
»2 Schnitzel, Wurst/Schinken, 1 Milch. Ananas«, geschrieben auf einem Apotheken-Zettel. Wer hat diesen Einkaufszettel geschrieben? Jemand der Nahrungsmittel als Medizin wahrnimmt? Ein Fleischliebhaber mit Hang zu Exotischem? Ein anderer Zettel, auf dem anfänglich sehr säuberlich geschrieben steht: »Zucchini, Joghurt, Camembert, Rucola, Zutaten für Ratatouille, Orangen, 8 Butter, Clopapier, Kütü.« Nach den Orangen wird die Schrift hektisch und bizarr. Wer braucht so viel Butter, und was wird damit wohl gemacht? Was passiert plötzlich mit der Rechtschreibung und was bitte ist »Kütü«?
Auf einem anderen, nicht lesbaren Zettel, hat der Verfasser bei seinem Einkauf die einzelnen Wörter wild durchgestrichen. Der Zettel gleicht einem kunstvollen Schriftstück, dessen heftige Nutzspuren den Eindruck erwecken, als käme es aus einer anderen Zeit.
Wenn es um Einkaufszettel geht, legen die meisten Menschen offenbar keinen Wert auf Ästhetik, Sorgfalt und Rechtschreibung. Schnell wird etwas auf Papier gekritzelt, Hauptsache der Verfasser kann das lesen. Literatur, die quasi nur für einen selbst verfasst wurde.
Der Einkauf im Supermarkt ist je nach Tag und Uhrzeit eine äußert freudlose Angelegenheit. Wer einmal die Woche einkaufen geht, verbringt durchschnittlich 168 Stunden im Jahr damit.[1] Für manchen Einkäufer ist diese Prozedur mit Stress verbunden, da während des Ganges durch den Markt unzählige Entscheidungen getroffen werden müssen, das fällt nicht immer leicht. Die meisten Menschen gehen abends nach der Arbeit einkaufen, um die einkaufenden Massen am Wochenende zu meiden. Allerdings herrscht am Ende eines Tages oft eine gewisse Entscheidungsmüdigkeit, daher schreiben sehr viele Menschen ihren Einkaufsplan auf einen Zettel, um es sich leichter zu machen. Man trifft die Entscheidungen im Voraus. Und ein guter Einkaufszettel kann dabei helfen, den eigenen Konsum einzuschränken und, salopp gesagt, seine Sinne beisammen zu halten.
Das Interessante an Einkaufszetteln ist, dass – sobald der Einkauf getätigt wurde – die Zettel schnell aus dem Gedächtnis und aus dem eigenem Leben verschwinden. Sie werden weggeschmissen oder am Ort des Geschehens zurückgelassen und vom Verfasser nie mehr wieder beachtet. Ist je ein Einkaufszettel mehr als ein Mal benutzt worden? Zusammengeknüllt im Einkaufskorb oder eingeklemmt zwischen den Metallstangen des Kindersitzes im Einkaufswagen, sind diese Zettel kleine Hinweise auf den ehemaligen Besitzer, und wenn man einen findet, sollte man einen Moment inne halten und diesem Beachtung schenken. Einkaufszettel anderer Menschen können äußerst kurios und amüsant sein. Ein Einkaufszettel ermöglicht einen winzig kleinen, jedoch äußerst authentischen Einblick in die Persönlichkeit eines Menschen. Gleichzeitig entstehen viele Fragen, wenn man sich den Konsum anderer Personen ansieht: Beziehungsstatus, bevorstehende Verabredungen, gesundheitliche Verfassung oder sogar der Intelligenzquotient sind durch die kleinen Listen zu erahnen. Manchmal ist die Mischung aus Nahrungsmitteln und nicht essbarer Konsumgüter so skurril, dass man sich fragt, was wohl im Leben des Autors gerade los ist.
Der Fernsehmoderator Wigald Boning war so begeistert von den kleinen Schriftstücken, dass er sogar ein Buch über seine Sammlung von Einkaufszetteln schrieb.[2] Ein Studie[3] verrät ganz konkrete Fakten über die kleinen Zettel. Zum Beispiel, dass die Mehrheit der Einkäufer mit Einkaufszetteln weiblich ist und Konsumenten ohne Einkaufszettel häufig keine Kinder haben. Das Berliner Institut für Innovationsforschung hat in einer repräsentativen Umfrage[4] herausgefunden, dass 83 % aller Konsumenten ihre Liste noch auf Papier schreiben. Apps für Einkaufslisten sind jedoch stark im Kommen und werden vor allem von der jüngeren Generation genutzt. Schade. Ein digitaler Einkaufszettel lässt sich nur sehr schwer finden. Es gibt da allerdings noch eine andere interessante Fundsache im Supermarkt – vergessene, liegen gelassene oder verlorene Kassenbons. Seitdem es ab dem Jahr 2020 eine generelle Bonpflicht gibt, wird man diese wahrscheinlich in Zukunft häufiger finden. Und diese Zettel verraten uns dann die ganze ungeschminkte Wahrheit über den Konsum eines Menschen.
- [1] laut »ze.tt«, einem Partner-Magazin der Zeit; https://ze.tt/am-flughafen-beim-arzt-und-am-pc-so-viel-zeit-verbringt-ihr-im-leben-nur-mit-warten/, Stand 2.2.2020.
- [2] Boning, Wigald: Butter, Brot und Läusespray. Was Einkaufszettel über uns verraten. Rowohlt Verlag, 2018.
- [3] Thomas, Art; Garland, Ron: Supermarket shopping lists: their effect on consumer expenditure. https://www.emerald.com/insight/content/doi/10.1108/09590559310028040/full/html, Stand 2.2.2020.
- [4] https://etailment.de/news/stories/Eingekauft-wird-einmal-die-Woche-16417, Stand 2.2.2020.