Mythen des Alltags
Verniedlichung
Der Säugling ist kein Sauger
Wir verwenden täglich Verniedlichungsformen ohne darüber tiefer nachzudenken, geschweige denn darüber zu reflektieren. »Na, mein Bärchen? Mausi, Schnucki, Liebling, Häschen, Schatzi, Darling, Spatzl …« und so weiter und so fort. So wollen sich Paare Zuneigung zeigen. Sobald jedoch der richtige Vorname des anderen vom Partner ausgesprochen wird, kann sich das bereits wie eine Bedrohung anhören. Psychologisch betrachtet sind dies Automatismen, auf die schon in der Kindheit zurückgegriffen wurden, z. B. als die Mutter Kosenamen benutzte, um ihre Liebe auszudrücken.
Wenn die Verniedlichungsform genau betrachtet wird, so kann der Kontext ad absurdum geführt werden. Beispielsweise kann jemand sich die Ohrläppchen reiben, wenn ihm kalt sein sollte, damit die Durchblutung angeregt und es etwas wärmer wird. Der Begriff »Ohrläppchen« ist in unseren Sprachgebrauch eingegangen und hat sich verselbstständigt. Kaum jemand wird seinen Ohrlappen reiben wollen; das Wort »Ohrlappen« weckt eher die Vorstellung einer Abnormalität, die unterhalb unseres Gehörgangs herauswächst und unästhetisch aussehen könnte …
Alles, was wir als klein und süß empfinden, wird von uns verniedlicht. Bei allem, was uns nah und vertraut ist, vermischen wir dessen Identität mit unserem emotionalen Eindruck und verändern so auch unsere Sprache über diese Dinge, seien es Menschen, Tiere, Beobachtungen oder Eindrücke. Wir würden nicht darauf kommen, den »Säugling« als »Sauger« zu bezeichnen. Die Assoziation mit dem Wort »Sauger« entspricht nicht einem kleinen Baby – schon eher einem Staubsauger oder einem recht sperrigen, industriellen Ding, das mehrere Tonnen Flüssigkeiten von einer Stelle zur anderen transportiert. Wir können uns mit der Bezeichnung »Säugling« für das Neugeborene besser arrangieren, weil das zu unserer subjektiven Empfindung eher passt und weil wir unseren instinktiven Gefühlen dem Baby gegenüber somit sprachlich zum Ausdruck verhelfen können.
Verniedlichende Wörter, von der Sprachwissenschaft »Diminutive« genannt, verkleinern oder verringern etwas. Ein Dimunitiv ist die Verkleinerungsform eines Substantivs und lässt sich aus vielen Wörtern als Koseform oder Abwertung bilden. Wird aus einem großen »Haus« ein »Häuschen«, findet eine Silbendopplung mit Kürzung des ursprünglichen Substantivs statt. Gleichzeitig wird ein verniedlichendes Suffix angehangen, in diesem Fall »-chen«. Dieses grammatikalische Prinzip funktioniert im Deutschen auch mit anderen Wörtern: Aus einem »Hund« wird ein »Hünd-chen« oder »Hund-i«. Im Deutschen wird im Zuge der Verniedlichung der Vokal des ursprünglichen Substantivs oftmals zum Umlaut: Aus einem »Sack« wird ein »Säckchen«.
Aber nicht nur im gegenwärtigen Sprachgebrauch stößt man auf Verkleinerungen, auch bei unseren Urahnen, die sich auf ihren Instinkt verlassen mussten, um das große Brüllen von dem kleinen Piepsen zu unterscheiden. Hat sich damals ein kleines harmloses Tier im Gebüsch versteckt, so war der kleine Laut, den es von sich gegeben hat, nicht weiter gefährlich. Befand sich ein großes Raubtier in der Nähe, konnte schnell das Weite gesucht werden. Anscheinend können wir auch instinktiv entscheiden, was groß oder klein sein kann. Den schriftsprachlich von uns festgehaltenen Tierlaut »pieps« verbinden wir wohl eher mit einem kleinen zwitschernden Vogel, ein »roaar« dagegen mit einem großen brüllenden Löwen.
Müssen sich alle kleinen Dinge klein anhören und Große groß? In einem Gedicht spielt Michael Ende damit, dass beim »Lindwurm« und beim »Schmetterling« die zugehörigen Objekte nicht zur klanglichen Ebene der Worte passen und macht aus dem Drachen einen »Schmetterwurm« und aus dem Insekt einen »Lindling«. Die Etymologie des Wortes »Schmetterling« erklärt der »Duden« so: »Das ursprünglich obersächsische Wort (16. Jahrhundert) hat sich erst seit dem 18. Jahrhundert in der Schriftsprache ausgebreitet, in der es heute neben Falter steht. Es gehört wohl zu ostmitteldeutsch Schmetten (Sahne), einem Lehnwort aus gleichbedeutend tschechisch smetana. Nach altem Volksglauben fliegen Hexen in Schmetterlingsgestalt, um Milch und Sahne zu stehlen (daher auch mundartliche Bezeichnungen des Schmetterlings wie »Molkendieb« und »Buttervogel« und altenglisch butorflēge, englisch butterfly).«[1] Damit wird deutlich, dass der Schmetterling in früheren Zeiten eher als eine Bedrohung und nicht wie heutzutage als hübscher Falter wahrgenommen wurde. Wie sich ein Wort verändert, ist, bei etymologischer Betrachtung, eine spannende Reise in die Vergangenheit.
So oder so kann es manchmal beruhigend sein, etwas zu verkleinern, dann wird daraus ein Problemchen, das man nur ab und zu hat …