Am deutlichsten wird, was zunächst mit Hybridität gemeint ist, beim Vorgang des Übersetzens. Denn man kann einen »fremden« Text weder vollkommen in eine Zielsprache übertragen, ohne Bedeutungen, die semantisch, kulturell, kontextuell und politisch nicht identisch oder gar vorhanden sind, durch schon in der Zielsprache Bekanntes zu ersetzen, oder wenn man das nicht will oder kann, Elemente des Originaltextes wie erratische Blöcke in der Zielsprache stehen zu lassen. Oder die Zielsprache verwandelt sich gleich ganz in etwas Drittes, was es so vorher nicht gab, indem sie der Originalsprache in der Zielsprache gleichsam ein neues Haus baut, wie Luthers Bibelübersetzung oder Johann Heinrich Voß’ Übersetzung der Ilias und Odyssee. Oder das, was Hölderlin der deutschen Sprache in seinen Oden und Hymnen abgewann, indem er die altgriechische Lyriksprache der deutschen anverwandeln wollte.
Die Weltliteratur ist eine von Übersetzungen und kulturellen Transfers, Übertragungen bestimmter Modelle von einer Kultur, einem Kontext in den anderen, ohne dass, was dabei entsteht, die Spuren dieser Übertragung abschütteln könnte. Solche kulturellen Transfers produzieren u. U. ebenfalls Hybridität – wie etwa der Export des europäischen Romans in die ehemaligen Kolonien. Der lateinamerikanische Roman, Werke des so genannten »Magischen Realismus« etwa, ist nicht einfach die – keineswegs selbstverständliche – Imitation des europäischen Vorbildes, wobei Europa diese Romane mit exotistischer Begeisterung verschlingt. Sondern er ist das Ergebnis einer »narrativen Transkulturation«, wie Angel Rama [2] es nennt, ein Hybrid aus europäischer Tradition und lokalen Narrationen, die wiederum eine Mischung aus Traditionen der ehemaligen Kolonisatoren, Sklaven und Einwanderer mit denen indigener Populationen sind. Was als sogenannter Magischer Realismus erscheint, als Mythisches, Märchenhaftes, als Element des Wunderbaren, ist dabei nicht selten Erscheinungsform einer Wahrnehmung, die sprachlich-kulturell anders als die europäische codiert ist. Im afrikanischen Roman, ebenfalls anfangs ein Produkt der Kultur des Kolonialismus und Postkolonialismus, wird das Hybride, Palimpsest-artige der Texte in und an der Sprache selbst womöglich noch sichtbarer. In manchen Ländern wie etwa Somalia, aus dem der große, seit Jahren für den Nobelpreis nominierte Schriftsteller Nuruddin Farah kommt, gibt es erst seit 1972 eine lateinisch fixierte, allgemein verbindliche schriftliche Version von Somali als Nationalsprache, in der Literatur geschrieben und schriftlich festgehalten wird, Farah selbst schreibt auf Englisch.
Afrikanische Autoren wie Wole Soyinka, Chinua Achebe, Amos Tutuola oder Ngũgĩ wa Thiong’o schreiben, wenn sie Englisch schreiben, oder Französisch wie Ahmadou Kourouma, Mongo Beti oder Veronique Tadjo eine Literatursprache, ein Konstrukt, das aus der ursprünglich europäischen, schon afrikanisch abgewandelten Literatursprache und der jeweiligen afrikanischen Sprache, manchmal mehreren, oft noch oral geprägten, ein Drittes macht. Dieses ist weder bruchlos in die englische oder französische Literatur einzuordnen, noch identisch mit den afrikanischen Traditionen, auch dies also ein dritter Raum. Autoren wie wa Thiong’o empfinden die Tradition, dass sie Englisch, die Sprache der ehemaligen Kolonisatoren und des internationalen Buchmarktes, schreiben, als so belastend und inkonsequent, dass sie zur afrikanischen Sprache zurückkehren. Thiong’o schreibt jetzt auf Kikuyu, dann – noch eine Hybridität – übersetzt er selbst seine Romane ins Englische, aus dem sie dann wiederum zum Beispiel ins Deutsche übertragen werden – nur so können sie erfolgreich international gelesen und verkauft werden. Zur Hybridität gehört, dass jegliche Rede darüber, die den Text und den Autor, die Autorin einordnen, entweder als heimisch oder als fremd definieren will oder zum Beispiel wie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur von Migrantenliteratur zu sprechen beginnt, automatisch Ressentiments erweckt. Hierzulande etwa reagiert ein Autor wie Feridun Zaimoglu, auf den ich noch zurückkommen möchte, ungehalten auf seine Einordnung in die Migrationsliteratur und macht doch immer wieder deutlich, dass er kein deutscher Schriftsteller wie die anderen deutschen Schriftsteller ist und sein will, zu denen er doch nur gehören möchte. Diese Spannung gilt es stehen zu lassen und jenseits von Zuschreibungen und Stigmata zu reflektieren, sie als Erweiterung und nicht als Einschränkung zu verstehen.
»Das Rätsel der Ankunft« heißt ein berühmter Roman des von den westindischen Inseln stammenden britischen Schriftstellers V. S. Naipaul, dem Literaturnobelpreisträger von 2001, und diesen Titel, der sich auf ein Gemälde von de Chirico bezieht, kann man geradezu exemplarisch für ein literarisches Verfahren ansehen, das ich auch bei Autorinnen wie Taiye Selasi oder beim Schriftsteller Teju Cole ausmachen würde. In seiner damaligen Rezension der deutschen Übersetzung des Naipaul-Romans in der »Zeit« von 1994 schreibt der Literaturkritiker Andreas Isenschmid gleich zu Beginn, man solle das als Roman deklarierte Buch nicht als solchen lesen, da man dann zwangsläufig enttäuscht werde. Meiner Ansicht nach ist genau das Gegenteil aufschlussreich. Nach einem Modell, das wir in der deutschsprachigen Literatur in fragmentarischer Vollendung – um es paradox zu sagen – bei Robert Musil im »Mann ohne Eigenschaften« finden, die ins Essayistisch-Philosophische drängende Auflösung der konventionellen Romanform, bei Naipaul zusätzlich ins Autobiographische gewendet, ist kein Scheitern an der Romanform. Es ist umgekehrt eine Verwandlung dieser Form, die Naipauls Thema – Fremdheit, Haltlosigkeit, kulturelle, menschliche, soziale Nicht-Zugehörigkeit, ein Zwischendasein, in dem er sich weder mehr als Einwohner Trinidads, noch als Engländer fühlen kann – in seiner Unlösbarkeit und Verstrickung – sinnfällig macht. Wie keine andere literarische Gattung ist der Roman flexibel, undefiniert, offen und bietet buchstäblich Raum für alles und deshalb ist er auch für hybride Literatur die vielleicht einleuchtendste Form, weil er alle nur denkbaren Sprachen, Themen, Untergattungen und Ebenen integrieren und reflektieren und sie so zueinander in Bezug bringen kann, dass es keinen einfachen Lösungs- und Deutungsweg mehr gibt.
Wenn Naipaul also die Romanform von innen in spezifischer Weise auflöst, verändert, hier dehydriert, dort aufbläst, dennoch aber den Gattungsbegriff beibehält, dann arbeitet er an einer kulturellen Transformation, die sich innerhalb des englischen Romans und sozusagen in England selbst vollzieht und die exakt bezogen ist auf jenen »dritten Raum«, Naipauls »Nicht-Ort« zwischen Trinidad und England. Isenschmid beschreibt den sowohl formalen wie inhaltlich-erzählerischen Vorgang, ausgehend von den endlosen, immer gleichen Spaziergängen des Ich-Erzählers, als ein Kreisen, das zugleich als ein religiöses Exerzitium, ein mönchisches Ritual inszeniert und vom Text auch so beschrieben wird. Gleichzeitig führt dieser Vorgang, vom Kritiker »zölibatäre Mönchsprosa« genannt, nicht nach innen, sondern in fremde Welten, in ein von England aus gesehen exotisches Trinidad und ein für den in Trinidad geborenen, indischstämmigen Autor Naipaul exotisches England, wiederum eine bewusste Entstellung eines überkommenen Erzählmodells. Sigrid Löffler nennt diesen Roman-Hybrid eine »philosophische Meditation«, in der »Autobiographie, Fiktion, Geschichte, Erinnerung und soziale und kulturelle Analyse ineinanderfließen …«[3] Weder wird also die Form des Romans bestätigt oder bekräftigt, die man zumindest auf dem Markt und bei einer üblichen Leserschaft erwartet, eine Geschichte, Handlung, Figuren, Verwicklungen, einen Spannungsbogen, eine Art Auflösung, noch wird selbstbewusst ein ambitioniertes Gegenmodell etabliert, das möglichst wieder eine höhere Geschlossenheit erreicht. Es ist eher so, dass man in eine Zirkularität hineingezogen wird, die selbst zu deuten wäre.