Aber es gibt noch andere Spuren, die das Inkommensurable des »Moby Dick« vielleicht spezifischer verständlich machen können. Man könnte sowohl die Machtverhältnisse an Bord der »Pequod« mit dem wahnsinnigen Captain Ahab an der Spitze im Lichte des Postkolonialismus bis in die Erzählform und die Rolle des Erzählers hinein als unendliche, unauflösliche Herr-Knecht-Dialektik lesen. Ebenso die Sprengung der Romanform als Reflex auf die im Werk artikulierte »Elegie auf die aufklärerische Idee einer republikanischen Demokratie«[11], wie Göske schreibt, die vom heraufziehenden Industriekapitalismus und dem Utilitarismus bedroht wird. Als Reflex auf die sich abzeichnende industrielle Ausbeutung der Natur, der äußeren Natur und der Tierwelt wie auch der in den industriellen Arbeitsprozessen unterworfenen Menschen. Aber noch viel konkreter verweist Melville auf rassistische, protokolonialistische Strukturen, wenn er die Besatzung der »Pequod« beschreibt, wo wie auch sonst in der Marine und der Armee, bei den Bautrupps an Kanälen und Eisenbahnen der weiße Amerikaner »freigiebig den Geist zur Verfügung stellt, während der Rest der Welt großzügig die Muskelkraft beisteuert.«[12] So sind Kapitän Ahab Fedallah und seine Malaien zugeordnet, der Südseeinsulaner Queequeg arbeitet für den Steuermann Starbuck, der Indianer Tashtego für den Zweiten Steuermann Stubb und den dritten Steuermann muss der Afrikaner Daggoo gelegentlich auf seinen Schultern tragen. Der mythische, vieldeutige, allegorische weiße Wal, der am Ende Schiff und Besatzung vernichtet und mit sich in den Abgrund reißt und nur Ismael am Leben lässt, bleibt eine rätselhafte Wesenheit. Ein Bild des Bösen, des blinden Willens zum Leben in der Natur, aber auch einer letztlich unbeherrschbaren Kreatürlichkeit und Gewalt, wie sie ja auch das Meer selbst ist, auf dem der Roman sich über weite Strecken mit der Pequod bewegt. In Ahab und Ismael begegnen sich zwei völlig gegensätzliche rhetorische Strategien des Sinns, wenn man das so nennen kann. Ahab ist auf eine gleichbleibende, monomanische Weise fixiert auf die Rache am Weißen Wal und zugleich auf den Schlüssel zum Problem der Erkenntnis, dem ultimativen Sinn. Ismael dagegen kann, wie Göske schreibt, »mit diversen, auch gegensätzlichen Lesarten im Buch der Natur leben«[13]. Seine Erzählerstimme ist variantenreich, rhapsodisch, ausschweifend, detailversessen, mal humoristisch, mal melancholisch. Man könnte also mutmaßen, ob sich hier nicht zwei Diskurse begegnen, die nicht miteinander vermittelbar sind, aber beide auf das Sinndefizit der Welt und der Natur antworten, der eine auf Macht und Unterwerfung fixiert, der andere gerichtet auf eine Vielsprachigkeit des Sinns bei gleichzeitiger pessimistischer Anerkennung der Möglichkeit seiner völligen Abwesenheit. Das offenkundig Hybride, Monströse, Extreme dieses inkommensurablen Buches ließe sich also auch im Kontext von den dargelegten Lesarten von Hybridität verstehen.
Wenn wir noch einen Schritt zurückgehen, landen wir in meiner Lesart bei einem Roman, dessen Figuren ähnlich geradezu mythischen Status erlangt haben, wie Kapitän Ahab, der weiße Wal, Queequeg und Ismael: bei Miguel de Cervantes Saavedras Roman »Don Quichote von der Mancha« (1605÷1615). Während »Moby Dick« zu Lebzeiten Melvilles ein fataler Misserfolg wurde und in den entsprechenden amerikanischen Journalen Verrisse kassierte, wurde die Geschichte vom »geistvollen Hidalgo« (wie Susanne Lange in ihrer gerühmten Neuübersetzung den Titel übersetzt[14]) schnell ein Erfolg, für die damaligen Verhältnisse geradezu ein Bestseller. So wie man sich bei beiden äußerst umfangreichen Romanen letztlich fragen muss, wie viele Leser das Original tatsächlich durchgelesen und nicht einfach zu gekürzten Fassungen oder anderen Schrumpfversionen gegriffen haben, so bleibt auch bemerkenswert, dass sich die Romanfiguren jeweils schnell vom eigentlichen Text abgelöst und verselbstständigt haben. Der Cervantes-Biograph Uwe Neumahr schreibt: »Cervantes konnte sich wegen des Erfolgs seines Romans glücklich schätzen, vielleicht bestand sein größtes Glück aber darin, dass die Zensoren und der überwiegende Teil seiner Leser den subversiven Charakter des Buchs gar nicht erkannten.«[15]
Worin könnte dieser subversive Charakter des Buchs bestehen, das Neumahr selbst so beschreibt: »Als Parodie der Ritterromane ist er ein literaturkritischer Roman, durch die Wertungen anderer Werke ist er gleichzeitig ein literaturgeschichtlicher Kommentar. Cervantes vereinigt die pikarische Lebensart, das Schäferdasein und das des Ritters in einem Werk und schafft damit die Synthese dreier Romanformen, ja, zählt man weitere eingeschobene Erzählungen wie die Moriskenerzählung und die italienische Novelle vom Maßlos Wissbegierigen dazu, erscheint der Roman geradezu als Katalog der gängigen Prosagattungen der Zeit. Was Cervantes faszinierte«, kommentiert Neumahr, »war gerade das Hybride, die Mischform, Vielfalt statt Einheit.«[16] Die Probleme der Interpreten, was für eine Art Werk sie nun genau vor sich haben, ein melancholisches, nihilistisches, parodistisches oder komisches, zielen daran vorbei, dass der Roman, der sich noch einmal im zweiten, zehn Jahre nach dem ersten erschienenen Teil selbst ins Bodenlose ironisiert, all dies und viel mehr schon ist. »Don Quichote«, so Neumahr, »gilt als der erste moderne Roman der abendländischen Literatur, weil in ihm vieles angelegt ist, was die Erzählliteratur späterer Jahrhunderte an literarischen Darstellungsmitteln entfalten wird.«[17]
Auf durchaus spezifische Weise sind die kritischen, subversiven, in einer Art negativer Dialektik nicht zu schließenden und aufeinander verweisenden Züge des Romans, seine paradoxen Strategien, eine Art bestimmter Negation in einem ganz spezifischen historischen Kontext und unter rigiden Zensur- und Marktbedingungen. Paradox ist ja auch, dass die Zensurbehörde nicht nur den Ritterroman als niedere Unterhaltungsliteratur schmäht – so etwa wie heute in islamistischen Gesellschaften alle Kunst und Literatur geschmäht wird, weil sie vom wahren Glauben ablenkt – , sondern den Roman überhaupt als moralisch fragwürdiges Medium geringschätzt. Dass der »Don Quichote« den Ritterroman parodistisch auflöse, was er tut, ist nur die eine Seite der Medaille. Der Autor kann gar nicht das Interesse gehabt haben, mit seinem Werk bloß die Wertlosigkeit der Ritterromane und die Fragwürdigkeit seines eigenen Genres vorzuführen. Was er im steten Zusammenprall von Fiktion mit durchaus realistisch, auch sozialkritisch beschriebener Wirklichkeit aufs Komischste und Nachdrücklichste entfaltet, ist eher im Gegenteil ein Zeichen für die Macht der Fiktion. Für ihre Sprengkraft, für den Roman als potentiell demokratisches, Klassen und soziale Schranken übergreifendes, vielsprachiges und unglaublich flexibles Medium, das sich dorthin begibt, wo der vorgeschriebene und mit Gewalt verordnete Sinn sich längst im realen Leben mit seinen eigenen Wahrheiten und Zwängen verflüchtigt hat. Cervantes‹ Roman ist gewissermaßen das Handlungs- und Gedankenprotokoll eines wahnsinnig gewordenen Lesers. Zugleich überrascht der Roman mit Seitenhieben auf Plagiatoren, die nach dem Erscheinen des 1. Buches Cervantes’ Fortsetzung, die zehn Jahre später erschien, zuvorkamen, um vom Interesse des geneigten Publikums zu profitieren. Der Roman überrascht auch mit der Einführung eines fiktiven maurisch-arabischen, dunkelhäutigen Autors und Chronisten dieser »wahren« Geschichte namens Cide (Sidi) Hamete (Hamed) Benengeli. Das potenziert nicht nur die Zahl der Erzähler, dessen erster sich gleich im ersten Satz mit einem rätselhaft bleibenden »Ich« meldet: »An einem Ort in der Mancha, ich will mich nicht an den Namen erinnern, lebte vor nicht langer Zeit ein Edelmann …« Neben diesem Ich-Erzähler gibt sich ein zweiter Erzähler zu erkennen, denn der erste berichtet nur bis Kapitel Neun, dann erscheint der zweite, der nur darlegt, was der unbekannte erste in einem fragmentarisch gebliebenen Text erzählt hat. »Nun begibt sich der zweite Verfasser voller Neugier auf die Suche nach weiteren Schriften, die die Geschichte zu Ende erzählen, und findet auf dem Seidenmarkt in Toledo ein Manuskript des fiktiven arabischen Historikers Cide Hamete Benegeli, dessen ›wahre‹ Geschichte von nun an als Vorlage dient«, schreibt Neumahr[18]. Da der zweite Verfasser diese arabische Vorlage übersetzen lässt, der Übersetzer aber eigenmächtig kürzt und ändert, gibt es mindestens schon drei Erzählerinstanzen. Im zweiten Teil des Romans unterhalten sich Don Quichote und Sancho Pansa aber zudem über die Unwahrheit der Wiedergabe von Episoden aus ihren Abenteuern in den Plagiaten der Fortsetzung des Romans, sie kommentieren also sich selbst als fiktionale Figuren in der Fiktion, wobei sie sich als authentische Charaktere, echte Menschen geben – ein Schwindel erregender Abgrund der Fiktionalität. »Völlig verwirrend wird es«, noch einmal Neumahr, »wenn der zweite Verfasser Cide Hamete Benegeli als lügnerischen ›Hund‹ bezeichnet. Er entzieht sich auf ironische Weise seiner Verantwortung für die Authentizität der Geschichte, denn das Erzählte basiert auf den Aufzeichnungen eines Mauren, eines Ungläubigen und damit eines Menschen, der der Wahrheit im christlichen Sinne nicht teilhaftig ist. So wird dem Leser bedeutet, dass er dem Erzähler bzw. den Erzählern des Romans nicht trauen darf …, die Instanz des allwissenden und auktorialen Erzählers wird unterwandert.«[19] Und damit auch eine bestimmtes Konzept von Wahrheit selbst, dass ja die Arbeit der Zensurbehörde leitet: Es sollen nur »wahre« Geschichten erzählt werden, gleichzeitig steht ja immer schon fest, was die Wahrheit ist, die der Kirche und der Obrigkeit. Mir erscheint es aber in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, dass einer der Autoren dieses Romans ein dunkelhäutiger, arabischer Historiker ist. Über das, was Neumahr sagt, hinaus möchte ich das Augenmerk auf diese von Cervantes vorgenommene Verschiebung, auf eine Art transkultureller Rückübersetzung lenken. Ebenso darauf, dass der Roman durch die vielen sozialen Milieus, die er liebevoll beschreibt, die Freundschaft zwischen Don Quichote und Sancho Pansa, der im Roman weit mehr ist als eine Witzfigur, und die implizite Kritik am Adel eine anarchische Sprengkraft entfaltet, die das Ständesystem und den Vorrang der Aristokratie in Frage stellt.
Don Quichotes kuriose Blitzheilung am Ende des Romans, die ihn von seiner durch zu viel Lektüre induzierten Narrheit Abstand nehmen lässt, erscheint selbst wiederum wie eine weitere Narrheit. In Wahrheit beginnt mit diesem Roman eine Geschichte, die etwas über die anhaltende und geheimnisvolle, in der Arbeit an der Sprache und unserer Suche nach Sinn und Zugehörigkeit waltende Sprengkraft dieses modernen Genres, des Romans, erzählt, dessen hybride Vertreter ich Ihnen versucht habe, nahezubringen.
- [11] a. a. O., S. 898.
- [12] a. a. O., S. 209.
- [13] a. a. O., S. 901.
- [14] Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quijotte von der Mancha. Übersetzt von Susanne Lange. München 2008.
- [15] Neumahr, Uwe: Miguel de Cervantes. Ein wildes Leben. Biografie. München 2015. S. 256.
- [16] a. a. O., S. 254.
- [17] a. a. O., S. 255
- [18] a. a. O., S. 250
- [19] ebd.