Das Missverständnis vom ewigen Frieden
Ein weiteres Hindernis bei dem Versuch, das Verhältnis von Krieg und Frieden zu denken, ohne dabei in den vorherigen Zustand des Gleichgewichts des Schreckens zurückzufallen, liegt im Verständnis der leitenden Friedensidee selbst. Was damit nämlich eigentlich vorschwebt, ist nicht Neville Chamberlains Appeasementformel »peace for our time«, sondern der zeitlich unbegrenzte, auch biblisch zugesicherte »Frieden auf Erden« (Lk. 2:14). Bekanntlich war es kein Geringerer als der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der 1795 in seiner Schrift »Zum Ewigen Frieden« unter Bezugnahme auf ein satirisches holländisches Wirtshausschild desselben Wortlauts, auf dem ein Friedhof gemalt war, das zugrunde liegende Missverständnis ansprach: Ewiger Frieden ist das – niemals zu realisierende und trotzdem mit Notwendigkeit immer vorschwebende – Leitideal. Damit dieses jedoch nicht nur ein »süsser Philosophentraum« bleibt, ist es erforderlich, es realistisch zu hinterlegen, d. h. seine innere Widersprüchlichkeit zu akzeptieren. Weder ist damit der ausschließende Gegensatz von Krieg und Frieden gemeint, noch eine erst im Jenseits anzusiedelnde paradiesische Situation; gemeint ist vielmehr eine permanente Aufgabe, deren Lösung immer wieder im Einzelnen auszuhandeln ist. Insofern erweist sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyi als guter Kantianer, wenn er – scheinbar widersprüchlich – sowohl seine Landsleute dazu aufruft, nicht nachzulassen in ihrem Widerstand gegen die russische Aggression, als auch in derselben Ansprache zugleich seine Bedingungen für Friedensverhandlungen nennt.
Kurz und mit Hilfe einer Analogie formuliert: Gesundheit ist – recht verstanden – nicht die vollständige und immer andauernde Abwesenheit von Krankheit, sondern die Art und Weise, wie ein Lebewesen mit seinen Krankheiten umgeht. Analog dazu ist Frieden nicht als die vollständige und permanente Abwesenheit von kriegerischen oder kämpferischen Handlungen, sondern als die Art und Weise zu verstehen, wie die antagonistischen Parteien mit den kriegerischen oder kämpferischen Handlungen umgehen. Allerdings bestand Kants diesbezüglicher Vorschlag darin, schrittweise die notwendigen Bedingungen für eine weltbürgerliche Gesellschaft zu realisieren. Damit ist aber genau die »regelbasierte Weltordnung« im Blick, die durch den völkerrechtswidrigen Überfall von Putins Russland auf die Ukraine de facto aufgekündigt wurde. So betrachtet, passt wahrscheinlich das, was »Kalter Krieg« genannt wurde, besser zu Kants Friedenskonzept als die steilsten explizit pazifistischen Überzeugungen.
Gewaltlosigkeit, Macht und zahnloser Pazifismus
Das 20. Jahrhundert kannte mindestens zwei exemplarische Typen von Vorbildern (»role models«) für solche explizit pazifistischen Überzeugungen: den »Gandhi«- und den »Flower-Power«-Typ.
Es ist hinlänglich bekannt, dass Mahandas (später: Mahatma) Karamchand Ghandi der indische spiritus rector der Kampagnen war, die man als »gewaltfreien zivilen Ungehorsam« (»Satyagraha«) bezeichnet. Weniger gut bekannt ist, dass er damit schon 1893 begann, um die Rassendiskriminierung in Südafrika zu bekämpfen. Und noch weniger bekannt ist die Bedeutung der Gewalt in seinem Leben, etwa das Massaker von Amritsar 1919, das eines der Resultate seiner Satyagraha-Kampagne für gewaltlose Streiks gegen den Rowland Act in England war. Und so war das ganze Leben dieser Vorbildfigur der Gewaltlosigkeit von der Wechselwirkung von Gewalt und gewaltlosem zivilen Ungehorsam geprägt. Sein sichtbarster Beitrag zur Unabhängigkeit Indiens hatte die Trennung von Indien und Pakistan zur Folge, an der sich unmittelbar Gewaltexzesse zwischen Hindus und Moslem entzündeten. Und schliesslich wurde er, der sein ganzes Leben lang Gewaltlosigkeit verkündete, selbst Opfer einer Gewalttat.
Der »Flower-Power«-Typ (Allen Ginsberg) gewaltlosen Widerstands, der in den 60er Jahren in San Francisco begann und sich schnell in der ganzen westlichen Welt verbreitete, war nicht so sehr mit einer individuellen spirituellen oder politischen Führergestalt verbunden, sondern entsprang eher einer Mischung von freier Liebe, Anti-Vietnamkriegs- und Hippiebewegung (»Make love, not war!«). Er drückte sich in Kunst, Musik und Lifestyle aus und gebar einen Pazifismus, der einerseits schnell zu einem subkulturellen Megatrend wurde, andererseits aber fast übergangslos in die terroristische Gewalt der Studentenrevolte umschlug.