Beide Beispiele illustrieren das, was ich den »dialektischen Charakter des expliziten Pazifismus« nennen möchte: Obwohl er durchaus zu einer politischen (und ökonomischen) Macht werden kann, ist seine Gewaltlosigkeit nicht in der Lage, Gewalt zu verhindern. Man ist sogar versucht zu sagen, dass es das Kennzeichen dieses zahnlosen Pazifismus ist, nahezu alles verändern zu können – nur nicht das, zu dessen Veränderung er angetreten war.
Paradox der Gewalt und nicht-parasitärer Pazifismus
Das hinter dieser Dialektik stehende Paradox der Gewalt äußert sich allerdings sehr viel direkter in dem bereits erwähnten Konzept der Abschreckung (»deterrence«). Im Falle politischer Akteure zeigt sich nämlich, was wir bereits aus der Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik wissen: Gleichgewichtszustände sind keineswegs die friedlichsten oder kreativsten; sie bilden eher das ab, was in Kants Beispiel durch das Friedhofsbild repräsentiert ist: Erstarrung ohne Innovation. Das mag auch der Grund dafür sein, dass ausgerechnet Reagan und Gorbatschow als die bedeutendsten friedenspolitischen Führungspersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gelten: weil sie es verstanden, durch subtile Dosierung der gegenseitigen Abschreckung nicht die pazifistisch geforderte generelle Abrüstung, sondern das Wettrüsten zu regulieren.
Schon die Römer wussten: »Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor (Si vis pacem para bellum)!« Dass eine genaue Zuschreibung dieser Formel zu einem einzelnen Autor nicht möglich ist, spricht dafür, dass sie als allseits bekannte sprichworthafte Volksweisheit galt. Angesichts der Entwicklung des Krieges in der Ukraine fällt es schwer, sich deren Berechtigung zu entziehen. Ein weder zahnloser noch parasitärer Pazifismus (der nach dem St. Floriansprinzip den eigenen mitteleuropäischen Frieden dadurch erkauft, dass er die Kriege anderswo und von anderen Akteuren ausfechten lässt) wird daher nicht darum herumkommen, sich als wehrhaften Pazifismus zu verstehen. Das gilt – auch und gerade jetzt wieder – für die neutrale Schweiz.
(Anmerkung der Redaktion: Der Schweizer Philosoph Walther Ch. Zimmerli war von 2020 bis 2021 Fellow an der Digital Society Initiative der Universität Zürich.– Der vorliegende Essay geht auf einen Text zurück, den er, noch vor dem Ukraine-Krieg, 2018 als EURIAS Senior Reserch Fellow am Collegium Helveticum in Zürich in einem Pazifismus-Sonderheft der »Studies in Christian Ethics« veröffentlicht hat und in einer gekürzten Version unter dem Titel »Wettrüsten, Abrüsten – und nun? Wie ein Pazifismus aussehen muss, der unserer Zeit gewachsen ist« in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 7.4.2022.)