1.2 Argumente ohne Wortschatz
Die meisten Zeichen und Sätze gelten in der Philosophie so wenig als Argumente – oder gar als logische Argumente – wie die beschriebene Faust auf das Auge als ein »überwältigendes Argument«. Deshalb ist zu fragen: Wie fungieren Bilder als visuelle Argumentation, wenn sie wie Argumente verwendet werden oder sogar so wirken? Oder überzeugen Bilder visuell argumentativ, wobei sie kontinuierlich die philosophische und sprachwissenschaftliche Logik einer Argumentation hintergehen? Wenn Bilder eine visuelle Argumentation aufbauen, dann ließe sich noch fragen, ob sie sich als logische Argumente verwenden lassen oder eventuell einer spezifischen Bildlogik folgen?
Zunächst ist folgende Frage zu beantworten: Wie sind Argumente im Wortschatz einer Sprache formuliert? Die philosophische Argumentationstheorie definiert ein Argument als eine verbalisierte Abfolge von Aussagen, die eine oder mehrere Annahmen und eine Schlussfolgerung in einer Sprache erfordert. Als Annahmen gelten vollständige Sätze, die die Prämissen in Worten beschreiben, aus denen die Schlussfolgerung bzw. Konklusion erfolgt.[9] Die formale Logik einer verbalen Sprache basiert zudem auf einem Fundament, welches logische Ausdrücke gebraucht. Zu solchen, logischen Ausdrücken gehören beispielsweise die »Wörter wie ›wenn – dann‹, ›genau dann – wenn‹, ›und‹, ›oder‹, ›alles‹ und ›einiges(s)‹«[10]. Innerhalb dieser logischen Beziehungen kommt es einerseits darauf an, dass die Sachverhalte inhaltlich mittels Begriffen definiert sind und dass andererseits formale Beziehungen mittels logischer Ausdrücke geknüpft wurden. Innerhalb einer Sprachgemeinschaft verstehen sich Individuen darauf, mit dem Gebrauch von Prädikaten und logischen Beziehungen beispielsweise einen Satz so aufzubauen, dass er einen weiteren Satz logisch impliziert. Wenn logische Ausdrücke regelkonform verwendet werden, dann verknüpfen wir unsere Worte zu logischen Argumenten. Solche Argumente implizieren unterschiedliche Prämissen, aus denen eine Schlussfolgerung bzw. eine Konklusion folgt. Eine sehr einfache Argumentation beruht daher auf einer Annahme die mittels logischer Ausdrücke, wie z. B. »wenn – dann«, »und«, »oder« sowie »nicht«, eine Konklusion erlaubt. Eine einfache Argumentation lautet beispielsweise: Wenn es regnet (erste Annahme) und Individuen kein Dach über dem Kopf haben (zweite Annahme), dann werden sie nass (Konklusion). Bereits ein solch einfaches Beispiel lässt erahnen, dass Bilder mit einer Philosophie der formalen Logik nicht als visuelle Argumentation zu erklären oder sinnvoll zu verstehen sind. Bilder präsentieren zwar in einer gewissen Dehnung des Begriffs eine Prämisse bzw. eine visuell kommunikative Annahme, aber eine Konklusion beinhalten sie nicht. Mit dem Begriff »visuelle Argumentation« kann demgemäß keinesfalls eine Argumentation gemeint sein, die den Symbolgebrauch in einer Sprache mit einem Wortschatz gleichkommt. Denn die Worte eines Vokabulars liegen abzählbar vor, indessen die Menge der Bilder in der Mediengesellschaft rasend wächst und sich aller regelkonformen Bedeutungsinterpretation entzieht.
Für Bilder existieren keine argumentativen Gegenbilder, welche die Sachverhalte eines ersten Bildes mit denen eines zweiten Bildes in Widerspruch setzen. Logische Begriffe und meist auch der Dialog selbst kommen innerhalb der bildhaften Kommunikation nicht bzw. selten vor. Erst die Social Media motivierten Individuen dazu, Bilder bzw. Piktogramme dialogisch auszutauschen. Die Formulierung einer bildhaften Hypothese scheitert daran, dass Bilder ohne die Beziehungen einer formalen Logik zwar nebeneinander stehen oder dialogisch ausgetauscht werden, aber keine Gültigkeit im Sinne eines wahren Konklusion erlangen.[11] Ein ikonisches Bild neben einem anderen ikonischen Bild einer Sonne erlangt keine logische Gültigkeit, die als Argument in einer ausgearbeiteten Aussagenlogik fungiert und z. B. das wahrste oder realistischste aller Sonnenbilder behaupten kann.
Bilder enthalten sich der Negation und allen anderen logischen Ausdrücken einer formalen Logik. Wenn Bilder für eine Argumentation verwendet werden, dann werden ihre Inhalte verbalisiert und substantiviert, um mit dieser Übersetzung eine Argumentationslogik zu folgen. Dove begründet dies damit, dass der logische Inhalt eines Bildes propositional sein kann, wenn »the logical analysis of visual arguments requires finding the associated verbal content oft the putative visual argument«[12]. Beispielsweise nutzen viele Cartoons oder historische Malereien ein solches »multi-code system«[13], weil erst das Zusammenspiel von visuell-kommunikativen und dann verbalisierten Zeichen zu einer sprachlogischen Argumentation führt. Allzu oft versprachlichen Rezipienten eine bildhafte Mitteilung, um diese als Information innerhalb ihrer kulturellen Lebenswelt bedeutsam werden zu lassen und neben den visuellen auch in sprachlichen Interpretationen zu verstehen. Solche Versprachlichungen unterliegen oft dann Irrtümern, wenn kulturfremde Bilder, wie z. B. der indische Gott »Ganesha«, als lustiger, bunter Elefant mit vier Armen von Europäern interpretiert werden. Ohne die kulturell informierte sprachliche »Stützung«[14] einer Bildinterpretation würde die visuelle Argumentation ihre gemeinten Bezüge verlieren und damit die intendierte Botschaft an den Rezipienten unvermittelt lassen. Jede visuelle Argumentation benötigt deshalb stützende Zeichen einer Bild- und Sprachgemeinschaft.
Es hat mehrere Gründe, warum eine formale Logik der Sprache nicht auch die Folgerichtigkeit einer visuellen Argumentation orientiert. Zu einfach wäre es, zu erklären, obgleich es zutrifft, dass Bilder weder als Sprache noch mittels Bildsprache oder mittels einer Bildgrammatik kommunizieren.[15] Die Argumentationstheorie der formalen Logik fordert, dass Begriffe (Wörter, Prädikate) in einer Sprachgemeinschaft als verallgemeinerte Meinungen über einen entsprechenden Sachverhalt verankert sind.[16] Auf ähnlich regelbasierten Begriffen einer booleschen Algebra basieren beispielsweise viele moderne Programmiersprachen, die einen Computer wie erwartet funktionieren lassen. Zwar bezeichnen Bilder fast immer einen Sachverhalt annäherungsweise wie ein Eigenname als verbales Prädikat, aber fast nie bezeichnen sie den Sachverhalt auf eine verallgemeinernde Weise. Im Gegenteil liegen ikonische Bilder oft als Unikat vor und bezeichnen einen ihnen spezifischen Sachverhalt, der allein auf diesem einmaligen Bild so per Ähnlichkeit bezeichnet ist, wie es das Bild zeigt.
Im Unterschied zu Bildern bezeichnen fast alle verbalen Symbole ihren Gegenstand willkürlich per Konvention, also arbiträr, um sich verallgemeinernd auf vergleichbare Sachverhalte zu beziehen. Mit anderen Worten: Bilder beziehen sich zwar wie Prädikate auf einen Sachverhalt, aber selbst wenn ein ähnlicher Sachverhalt bezeichnet werden soll, dann verwenden Sprach- ebenso wie Bildgemeinschaften nicht dasselbe Bild nochmals, sondern erstellen ein neues Bild. Ohne ein irgendwie begrenzbares oder abzählbares Zeichenrepertoire entziehen sich Bilder dem Versuch von Heßler und Mersch, sie als ein »Zeichensystem und Symbolsystem«[17] zu beschreiben, weil hinsichtlich Bildern anders als bei einer Sprache unabsehbar ist, was zu dem zusammengesetzten Ganzen dazugehört und was nicht. Wenn ein Kunstwerk sogar immer wieder neu anfängt, eine eigene Syntax zu präsentieren, wie Mersch[18] schreibt, dann bestätigt dies vor allem, dass die Kunst selbstverständlich Schlussfolgerungen einer formalen Logik souverän übergeht. Insbesondere das »soziale System«[19] der Kunst bietet einen Kontext (frame), der bei hoher gesellschaftlicher Anerkennung sehr motiviert alle Regeln, formalen Logiken und verbalen Argumentationen ignorieren soll, um einerseits so frei und kreativ wie der Wind zu sein und andererseits letztlich als »überwältigendes Argument« subversiv auf sprachliche Interpretation zu wirken.
Die bildhaften Einzeldarstellungen über einen Sachverhalt folgen keiner prädikatenlogischen Form, die etwas so beschreibt, wie wir es von Namen (singulären Termini) Prädikaten (generellen Termini) kennen.[20] Es wäre ein gewisser Scherz, keine Fotografie seines geliebten Menschen aufzustellen, sondern lieber dessen Eigennamen im Schriftbild Arial in einen Bildrahmen neben seinem Bett zu drapieren. Namen und Prädikate bezeichnen einen Sachverhalt arbiträr mittels Symbolen, mit denen sie den Anforderungen einer formalen Logik genügen. An dieser formalen Anforderung des prädikatenlogischen und des aussagenlogischen Kalküls scheitern bildhafte Darstellungen grundsätzlich.
- [9] vgl. Hardy, Schamberger 2018, 23.
- [10] Hardy, Schamberger 2018, 22.
- [11] vgl.Hardy, Schamberger 2018, 37.
- [12] Dove 2012, 223.
- [13] Roque 2012, 276.
- [14] Scholz 2000, 154.
- [15] vgl.Schelske 2020, 7; vgl. Schelske 1997, 150.
- [16] vgl. Hardy, Schamberger 2018, 22.
- [17] Heßler, Mersch 2009, 48.
- [18] vgl. Mersch 2018, 25.
- [19] vgl. Luhmann 1995, 497.
- [20] vgl. Hardy, Schamberger 2018, 152.