3 Semantik der visuellen Argumentation
Jedes Bild präsentiert sich als kulturelles Zeichen mit einer Farbe und Form, die etwas bezeichnet, um etwas in einer Gesellschaft zu bedeuten. Insofern kommuniziert jedes Bild sich selbst als Zeichen innerhalb einer syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension. Die syntaktische Dimension bezieht sich wie oben beschrieben auf die Farbe und Form von Bildern und benennt nach Peirce den Zeichenmittelbezug (sign ground). Die Pragmatik gibt den Interpretantenbezug eines Zeichens an, wodurch dessen Bedeutung bzw. dessen Wirkungsweise auf das Handeln des Rezipienten angeben wird. Die Semantik benennt den Objektbezug, wie etwas thematisiert bzw. aufgestellt oder bezeichnet (signifiziert) wird. Für die Dimension der Semantik muss deshalb die Frage nach der visuellen Argumentation wie folgt lauten: Wie kann die bildeigene Semantik eine Bildlogik anbieten, die als visuelle Argumentation bei den Rezipienten eine gewisse Folgebereitschaft erwirkt? Die Frage nach der Semantik bezieht sich also darauf, wie Bilder ein Objekt bezeichnen und wie ihre Bezeichnungen auf Betrachter wirken.
Peirce unterscheidet die semantischen Objektbezüge in Ikon, Index und Symbol.[37] Das Ikon bezeichnet etwas durch seine augenfällige Ähnlichkeit zu seinem Objekt. Dies passiert immer dann, wenn wir beispielsweise im Bild eines Bären einen Bären erkennen, also das Bild ein Bär ikonisch bezeichnet. Als »überwältigendes Argument« tritt der ikonische Objektbezug beispielsweise dann auf, wenn Rezipienten den Bären beispielsweise als so niedlich empfinden, dass sie behaupten, ein so niedlich aussehender Bär könne niemals Menschen töten. Die Bildlogik der visuellen Argumentation arbeitet im Ikon mit der Erwartung, dass das Bild einen Rezipienten zu einer Handlung verführt, verleitet oder manipuliert, obgleich in der formalen Logik ein ganz anderer Schluss nötig wäre. Denn die formale Aussagenlogik würde zum Ausdruck bringen: Wenn Braunbären große Raubtiere sind und alle großen Raubtiere Menschen töten können, dann lässt sich daraus schließen, dass Braunbären Menschen töten können.
Die visuelle Argumentation des Ikons unterläuft jede formale Logik, um den Betrachter sowohl in der Ästhetik von Farbe, Form und Materialität zu beeindrucken als auch zu informieren. Die Werbung lebt beispielsweise davon, dass Bilder Erwartungen erwecken, die sich hinsichtlich der realen Dingen nicht zwingend erfahren lassen. Beispielsweise zeigt die Coca Cola Werbung oft glückliche Menschen, obgleich keineswegs zu erwarten steht, dass der Genuss einer Cola jeden Menschen glücklich macht. Das überwältigende Argument eines Ikons resultiert aus der kommunikativen Macht, Dinge, Körper und Lebenswelten in bezeichnenden Bildern zu kreieren, obgleich sie mitunter niemals – wie gezeigt – erfahrbar sind und auch nicht erfahrbar sein sollen. Immer besteht die bildhafte Behauptung im Ikon darin, dass das Gezeigte schon allein deshalb so wie dargestellt sein könnte, weil es sich als Bild von etwas in positiver Präsenz zeigen lässt. Zwar lässt sich wissenschaftlich behaupten, Engel wären inexistent, aber sehen lassen sie sich in christlichen Bildern eben doch. Gegen schlagende Argumente bleiben Worte mitunter unmächtig. Wenn die Trauminsel, das Traumauto, die Traumbeziehung oder das Traumleben mittels Bildern als Sehnsüchte formuliert wurden, dann verlieren formale Argumente oftmals ihre Relevanz, weil sprachliche Gegenargumente vielleicht einfach nur keinen Spaß machen und desillusionierend wirken.
Anders als ein Ikon mit seinem Objektbezug per Ähnlichkeit bezieht ein Index sich auf ein Objekt mittels eines direkten Hinweises auf eine reale Tatsache. Peirce begreift als Index einen Objektbezug, der sich auf eine messbare Tatsache bezieht.[38] Die Lichtbildnerei beispielsweise überzeugte im letzten Jahrhundert Rezipienten, weil das lichtempfindliche Filmmaterial auf eine optische Wirklichkeit reagiert, die so zu existieren schien, wie sie im Foto dargestellt ist. Ein Index bezeichnet immer etwas Kraft seiner wirksamen Verbindung zum Objekt. Rauch indexiert beispielsweise ein Feuer. Im Zusammenspiel mit dem Index der Lichtbildnerei und der Verwendung der Zentralperspektive stabilisierte sich im letzten Jahrhundert die soziale Konvention, dass Fotos eine Realität zeigen und beweisen können. Viele Autoren meinen deshalb in der Fotografie den Beweis dafür zu erkennen, dass Fotos als ein Argument gelten würden, weil es einen Sachverhalt darstellen kann, der existiert oder existiert hat. Allerdings verkennen sie, dass fotografisch dargestellte Sachverhalte immer erst dann in einer argumentativen Schlussfolgerung eingehen, wenn sie in Begriffe einer Sprache überführt wurden. Ohne die Begriffe einer Sprache bleiben Fotos ein »überwältigendes Argument«, dessen Bildlogik überzeugt, weil ein evidenter Sachverhalt ursächlich war oder sein könnte. Ob allerdings der Sachverhalt so bestand, wie auf dem Foto dargestellt, ist eine andere Frage, die für die kommunikative Überzeugungskraft hinderlich wäre und im Alltag oft übergangen wird, um als Beweis und visuelle Argumentation eine Gültigkeit jenseits der formalen Logik zu erlangen.
Als Index gelten in Bildern auch Hinweispfeile, farbige Orientierungsmarken, Lupenfunktionen, Sprechblasen etc. Solche Steuerungscodes in Bildern verwendet das Möbelhaus IKEA beispielsweise, um die Aufbauanleitungen für Möbel nachvollziehbar zu kommunizieren und besondere, handwerkliche Tricks hervorzuheben. Für solche indexikalischen Steuerungscodes in Bildern konnte Scholz darlegen, dass Rezipienten die visuelle Argumentation einer Aufbauanleitung erst dann folgerichtig verstehen, wenn sie sogenannte »Stützungsregeln«[39] der Bildinterpretation handwerklich oder sprachlich übersetzt haben. Der kulturelle Hintergrund, wie Bilder einer IKEA-Aufbauanleitung zu interpretieren ist, stabilisiert die Logik von Bildern als visuelle Argumentation und versucht eine folgerichtige Umsetzung beim Rezipienten zu inszenieren. Die visuelle Argumentation bleibt deshalb auf konzeptionelle Vermittlungsstrategien angewiesen, die auf kulturellen Stützungsregeln für ikonische und indexikalische Objektbezüge in Bildern basieren.
Die Aufbauanleitungen für Möbel von IKEA dokumentieren, wie mittels Bildern ikonische und indexikalische Objektbezüge international auf fünf Kontinenten über sprachliche Grenzen hinweg kommuniziert werden. Wenngleich die ikonischen und indexikalischen Aufbauanleitungen von IKEA weltweite Verwendung finden, basieren die kulturellen Stützungsregeln der Bildinterpretation trotzdem auf einer gesprochenen Sprache der jeweiligen Gesellschaft. Beispielsweise wären ein christliches Kreuz, die Hindu Gottheit Ganesha, eine Nationalflagge und auch die IKEA-Aufbauanleitung in Bildern ohne sprachliche Vermittlungen unverständlich, weil ihre symbolischen Gehalte ausschließlich arbiträr darstellen, auf welche Objekte sie sich beziehen. Symbole in Bildern stehen dem Begriff der visuellen Argumentation entgegen, weil symbolische Objektbezüge ausschließlich mittels verbaler Sprache zu verstehen sind und visuelle Einsichten verunmöglichen. Sobald mittels Symbolen in Bildern argumentiert wird, bietet die formale Aussagenlogik und Prädikatenlogik den Kontext aller Interpretation. Visuelle Argumentation liegt nie symbolisch vor, denn sie entwickelt ihre Überzeugungskraft aus der Ästhetik des Materials bzw. des Zeichenmittels und des ikonischen Objektbezugs. Wenn das Bild jemanden gefällt, dann hat sich die Bildlogik der visuellen Argumentation bereits oftmals erfüllt.