In der Dimension der Pragmatik nennt Peirce den höchsten Interpretantenbezug »Argument«.[44] Diese Formulierung verwirrt im Kontext visueller Argumentation etwas, weil Peirce definieren möchte, welche Voraussetzungen ein Zeichen erfüllen muss, um in der formalen Logik als Argument zu gelten. Als Argument möchte Peirce eine Zeichenverbindung definieren, die syntaktisch einer Regelhaftigkeit als auch Grammatik folgen und zudem die semantisch grundsätzlich etwas mittels eines Symbols bezeichnet. Mit anderen Worten zielt Peirce darauf, mit dem Interpretantenbezug den besonderen Rang verbaler Sprache hervorzuheben, die diese für die Regeln formaler Logik hat. Bilder enthalten zwar Symbole, aber deren Bezeichnungen benötigen eine sprachliche Erklärung, wenn sie wie gemeint verstanden werden sollen. Desgleichen folgen Bilder auch syntaktischen Regel, wie beispielsweise die der Perspektive oder die der Kunststile Pointillismus, Expressionismus, Impressionismus, Kubismus etc., aber eine regelgeleitete Grammatik der Bilder hat bisher keine Kultur hervorgebracht. Diese bis heute fehlende Grammatik von Bildern würde Peirce damit begründen, dass ikonische und indexikalische Objektbezüge es grundsätzlich ausschließen, eine Grammatik oder formale Logik aufzubauen. Eine regelgeleitete Syntaktik, über die kulturell eingebettete Bilder im Legizeichen durchaus verfügen, reicht für den Aufbau einer Grammatik und einer formalen Logik nicht aus.
5 Fazit zur visuellen Argumentation
Warum verwenden ausschließlich Menschen eine Bildkommunikation? Mit einer gewissen, anthropozentrischen Übertreibung ließe sich behaupten, dass beispielsweise ein Chamäleon sich selbst mittels ikonischer Zeichen tarnen könne, weil es so scheint, also ob es etwas anderes per Ähnlichkeit bezeichnet. Des Weiteren kommunizieren Chamäleons offenbar mittels Farbwechsel indexikalisch untereinander, wenn sie sich damit ihre Paarungsbereitschaft signalisieren. Indessen entwickelten Chamäleons bisher keine Sprache, weil sie vermutlich unfähig waren, den Abstraktionsgrad arbiträrer, also symbolischer Objektbezüge zu erfinden. Würden beispielsweise Menschen in einem Tanztheater so gut es eben geht mittels eines LED-Anzugs ein Chamäleon vorspielen, dann wissen die Rezipienten, dass die Tanzenden nicht verrückt geworden sind, sondern ihnen wurde der kulturelle Kontext (»frame«) für Tanz vorab sprachlich mitgeteilt. Mit anderen Worten: Tanztheater und Bilder fungieren als Kommunikationsgeschehen notwendig erst dann, wenn es von sprachlichen Symbolen begleitet wurde. Oftmals bietet eine visuelle Argumentation eine facettenreiche Show, wie sie auch das Chamäleon anbietet, aber dieses Phänomen wurde in diesem Text kontinuierlich als »überwältigendes Argument« benannt. Denn ein »überwältigendes Argument« bemüht sich darum, jede ikonische und indexikalische Wirkung zu nutzen, um den Betrachter zu verführen, nicht ständig in Symbolen darüber nachzudenken, was er sieht, sondern lieber spontan und emotional zu reagieren. Doch selbstverständlich weiß jeder Betrachter, dass alles nur ein Bild oder Film ist und er jederzeit aussteigen könne. Dieses Wissen erlangt das Chamäleon nicht.
Auf die Besonderheit des »überwältigenden Arguments« bezog sich bereits die Anekdote von Zeuxis und Parrhasios, wie sie der römische gelehrte Plinius Secundus[45] im ersten Jahrhundert nach Christus darstellte. Der Legende nach waren Zeuxis und Parrhasios im Wettstreit, wer das naturgetreueste Bild malen konnte. Zeuxis malte so naturgetreue Trauben, dass Vögel zu dem Bild flogen und die Trauben fressen wollten. Doch Parrhasius stellte Zeuxis ein Bild vor, welches von einem Umhang aus Leinen verhüllt schien. Als Zeuxis den Umhang entfernen wollte, bemerkte er, dass er auf eine Augentäuschung (Trompe l´oeil) hereingefallen war. Diesen Irrtum konnte Zeuxis anders als die Vögel zweifelsohne in Symbolen formulieren. Auch in dieser Anekdote, überzeugen Bilder ihre Betrachter als »überwältigendes Argument«, obgleich Sprache notwendig ist, um die visuelle Argumentation auf das Niveau einer formalen Logik folgendermaßen zu heben: Parrhasios malte ein Bild, dass so naturgetreu wirkt, dass Zeuxis als vernünftiger Mensch darauf hereinfiel. Zeuxis malte ein Bild, dass so naturgetreu wirkte, dass Vögel darauf hereinfielen. Daraus folgt der logische Schluss: Wenn nicht nur Vögel, sondern auch ein Mensch sich von einem Bild täuschen lassen, dann hat Parrhasios das naturgetreuere Bild gemalt und Zeuxis den Wettstreit verloren. Heutzutage weiß die Bildwissenschaft, dass Bilder niemals Abbildungen von etwas sind, sondern eine Darstellung einer konstruierten Realität. Und dieser kommunikative Sinn einer konstruierten Realität ist genau die sensible Botschaft, die das schlagende Argument der Bildkommunikation unterdrückt und überdeckt, denn schließlich kann jeder sehen, wie ein Bild eine Realität darstellt, obgleich es nur eine unter anderen ist, die bildlogisch möglich wäre. Jede Logik von Bildern zeigt ihre Realität, die in Gesellschaften solange als visuelle Argumentation fungiert, wie sie nicht als »überwältigendes Argument« verbal in einer formalen Logik aufgeklärt wird.
6 Literatur
Birdsell, David S.; Groarke, Leo: Toward a Theory of Visual Argument. In: Argumentation and Advocacy: The Journal of the American Forensic Association. Vol. 33, 1–10. River Falls, Wis, London: The Association, Taylor & Francis Group, 1989.
dies.: Outlines of a Theory of Visual Argument. In Argumentation and Advocacy Vol. 43, 2007, Issue 3—4. 43:3—4, 103—13. https://doi.org/10.1080/00028533.2007.11821666.
Dove, Ian J.: On Images as Evidence and Arguments. In: van Eemeren; Garssen 2012, 223—38.
Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973.
Hardy, Jörg; Schamberger, Christoph: Logik der Philosophie. Einführung in die Logik und Argumentationstheorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018(2).
Heßler, Martina; Mersch, Dieter (Hg.): Logik des Bildlichen: Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld: Transcript, 2009. http://gbv.eblib.com/patron/FullRecord.aspx?p=4347455.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft; Teil 1. Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel; Bd. 3. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983.
Kjeldsen, Jens E.: Pictorial Argumentation in Advertising. Visual Tropes and Figures as a Way of Creating Visual Argumentation. In: van Eemeren and Garssen 2012, 239—255.
Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995.
Mersch, Dieter: Visuelles Denken. Konjunktionale Versus Propositionale Assoziierung. In: Visuelle Assoziationen: Bildkonstellationen Und Denkbewegungen in Kunst, Philosophie Und Wissenschaft. Hg. von Andrea Sabisch, Manuel Zahn, Andrea Becker-Weimann, 23–43. Hamburg: Textem, 2018.
Minsky, Marvin: A Framework for Representing Knowledge. Artificial intelligence memo 306. Cambridge, Mass.: Massachusetts Inst. of Technology AI Lab, 1974.
Peirce, Charles S.; Hartshorne, Charles; Weiss, Paul (Hg.): Collected Papers of Charles Sanders Peirce. 2. print. Cambridge: Belknap Press of Harvard Univ. Press, 1960.
Perelman, Chaïm: Logik und Argumentation. Athenäum-Taschenbücher 1000 : Philosophie, Wissenschaftstheorie. Königstein im Taunus: Athenäum, 1979.
Pfeifer, Wolfgang; Braun, Wilhelm: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin: Akademie-Verlag, 1993.
Plinius Secundus, Gaius; Hopp, Joachim; König, Roderich; Winkler, Gerhard: Naturalis historiae libri XXXVII: Naturkunde (in 37 Büchern). Tusculum-Bücherei. München: Heimeran, 1973.
Rehkämper, Klaus: »Perspektive ist des Malers beste Kunst.« Einige Bemerkungen zur Theorie der Perspektive kritisch betrachtet. Berichte – Graduiertenkolleg Kognitionswissenschaft der Universität Hamburg 19. Hamburg: GrKK, 1993.
Romanyshyn, Robert D.: Technology as Symptom and Dream. London: Routledge, 1989.
Roque, Georges: Visual Argumentation. A Further Reappraisal. In: van Eemeren ; Garssen 2012, 271—88.
Schelske, Andreas: Die kulturelle Bedeutung von Bildern: Soziologische und semiotische Überlegungen zur visuellen Kommunikation. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, 1997. http://dx.doi.org/10.1007/978-3-663-09735-8.
Schelske, Andreas: Wie wirkt die Syntaktik von bildhaften Zeichen kommunikativ? In: Sachs-Hombach, Klaus; Rehkämper, Klaus (Hg.): Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Reihe Bildwissenschaft 1. Magdeburg: Scriptum-Verlag, 1999. 145—154.
Schelske, Andreas: What Virtual Reality Knows That Pictures Do Not. In: The International Journal of the Image 11 (4), 2020: 1—11. doi:10.18848/2154-8560/CGP/v11i04/1-11.
Scholz, Martin: Technologische Bilder – Aspekte Visueller Argumentation: Dissertation. 2000.
Schopenhauer, Arthur: Die Kunst, Recht zu behalten. Hamburg: Nikol., 2019.
van Eemeren, Frans H.; Garssen, Bart (Hg.): Topical Themes in Argumentation Theory. Twenty Exploratory Studies. SpringerLink Bücher 22. Dordrecht: Springer Netherlands 2012. http://site.ebrary.com/lib/alltitles/docDetail.action?docID=10562508.
Watzlawick, Paul; Bavelas, Janet B.; Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber, 1969.