2. Sta­ti­on: Hand­lung und Figu­ren des Romans

Von einer Hand­lung des Romans zu spre­chen, scheint leicht über­trie­ben. Mei­ne Taschen­buch-Aus­ga­be des »Zau­ber­bergs« zählt rund 750 Sei­ten; ihr Hand­lungs­kern ist rasch wiedergegeben.

Die Geschich­te beginnt rund sie­ben Jah­re vor Aus­bruch des ers­ten Welt­kriegs, also 1907. Hans Cas­torp, der »Held« des Romans, ist ein 24 Jah­re alter Ham­bur­ger aus gut­bür­ger­li­chen Ver­hält­nis­sen, Wai­se; er hat gera­de sei­nen Inge­nieur­ti­tel erwor­ben und soll in etwa drei Wochen sei­ne Arbeit bei einer Schiffs­werft in sei­ner Hei­mat­stadt antre­ten. Die drei Wochen nützt er, um in die Schweiz nach Davos zu fah­ren. Dort weilt bereits seit einem hal­ben Jahr sein Vet­ter Joa­chim Zie­m­ßen, um in einem Sana­to­ri­um sei­ne Lun­gen­krank­heit zu kurie­ren. Zu die­ser Zeit konn­ten Lun­gen­er­kran­kun­gen noch nicht so erfolg­reich behan­delt wer­den wie heu­te; Tuber­ku­lo­se, Bron­chi­tis, Asth­ma ver­lie­fen oft töd­lich. Hans Cas­torp, der noch nie so weit gereist und in den Ber­gen ­gewe­sen war, ist bald fas­zi­niert von der eigen­tüm­li­chen Welt in ­die­ser Heil­an­stalt – so sehr, dass er nicht wie­der heim­reist, son­dern sich selbst dort behan­deln lässt, weil er anschei­nend auch an ­Lun­gen­pro­ble­men lei­det. Er lernt in die­sem Sana­to­ri­um eigen­willige, inter­es­san­te ­Men­schen ken­nen, setzt sich mit ver­schie­de­nen Ideen und ­Theo­rien aus­ein­an­der, erlebt eine Lie­be, wird ange­zo­gen von Krank­heit und Tod. So ver­geht eine lang Zeit, es ver­ge­hen sie­ben Jah­re. Am Ende geht er wie­der nach unten, »in die Ebe­ne«, in die nor­ma­le Welt und zieht in den Krieg.

Das war der Hand­lungs­ab­lauf (wie man frü­her das nann­te, was man inzwi­schen bevor­zugt mit »Plot« bezeich­net). Einen »Action«-Film kann man dar­aus nicht ­machen. Der Roman ist im übri­gen ver­filmt wor­den, ­rela­tiv werk­ge­treu, von Hans W. Gei­ßen­dör­fer.[4]

Sei­nen Reiz ent­wi­ckelt der Roman durch die Figu­ren, die ­Men­schen und ihre Lebens­kon­zep­te – und durch die Spra­che, die Tho­mas Mann ihnen gibt, durch den Ton, den er wählt. Um Ihnen davon einen Ein­druck zu ver­schaf­fen, fol­gen die ers­ten Absät­ze aus dem »Ankunft« über­schrie­be­nen ers­ten Kapi­tel des Romans. Man ach­te bei der Lek­tü­re auf den Erzähl­ton und beden­ke, dass uns nur hun­dert Jah­re von der Ent­ste­hung die­ses Romans tren­nen – wie sehr sich die­ses Deutsch von dem unter­schei­det, das wir sprechen …

Ein ein­fa­cher jun­ger Mensch reis­te im Hoch­som­mer von Ham­burg, sei­ner Vater­stadt, nach Davos-Platz im Grau­bün­di­schen. Er fuhr auf Besuch für drei Wochen.
Von Ham­burg bis dort hin­auf, das ist aber eine wei­te Rei­se; zu weit eigent­lich im Ver­hält­nis zu einem so kur­zen Auf­ent­halt. Es geht durch meh­re­rer Her­ren Län­der, berg­auf und berg­ab, von der süd­deut­schen Hoch­ebe­ne hin­un­ter zum Gesta­de des Schwä­bi­schen Mee­res und zu Schiff über sei­ne sprin­gen­den Wel­len hin, dahin über Schlün­de, die frü­her für uner­gründ­lich galten.
Von da an ver­zet­telt sich die Rei­se, die solan­ge groß­zü­gig, in direk­ten Lini­en von­stat­ten ging. Es gibt Auf­ent­hal­te und Umständ­lich­kei­ten. Beim Orte Ror­schach, auf schwei­ze­ri­schem Gebiet, ver­traut man sich wie­der der Eisen­bahn, gelangt aber vor­der­hand nur bis Land­quart, einer klei­nen Alpen­sta­ti­on, wo man den Zug zu wech­seln gezwun­gen ist. Es ist eine Schmal­spur­bahn, die man nach län­ge­rem Her­um­ste­hen in win­di­ger und wenig reiz­vol­ler Gegend besteigt, und in dem Augen­blick, wo die klei­ne, aber offen­bar unge­wöhn­lich zug­kräf­ti­ge Maschi­ne sich in Bewe­gung setzt, beginnt der eigent­lich aben­teu­er­li­che Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Auf­stieg, der nicht enden zu wol­len scheint. Denn Sta­ti­on Land­quart liegt ver­gleichs­wei­se noch in mäßi­ger Höhe; jetzt aber geht es auf wil­der, drang­vol­ler Fel­sen­stra­ße allen Erns­tes ins Hochgebirge.
Hans Cas­torp – dies der Name des jun­gen Man­nes – befand sich allein mit sei­ner kro­ko­dils­le­de­men Hand­ta­sche, einem Geschenk sei­nes Onkels und Pfle­ge­va­ters, Kon­sul Tien­ap­pel, um auch die­sen Namen hier gleich zu nen­nen –, sei­nem Win­ter­man­tel, der an einem Haken schau­kel­te, und sei­ner Plaidrol­le in einem klei­nen grau gepols­ter­ten Abteil; er saß bei nie­der­ge­las­se­nem Fens­ter, und da der Nach­mit­tag sich mehr und mehr ver­kühl­te, so hat­te er, Fami­li­en­söhn­chen und Zärt­ling, den Kra­gen sei­nes modisch wei­ten, auf Sei­de gear­bei­te­ten Som­mer­über­zie­hers auf­ge­schla­gen. Neben ihm auf der Bank lag ein bro­schier­tes Buch namens ›Oce­an steam­ships‹, wor­in er zu Anfang der Rei­se bis­wei­len stu­diert hat­te; jetzt aber lag es ver­nach­läs­sigt da, indes der her­ein­strei­chen­de Atem der schwer keu­chen­den Loko­mo­ti­ve sei­nen Umschlag mit Koh­len­par­ti­keln verunreinigte.
Zwei Rei­se­ta­ge ent­fer­nen den Men­schen – und gar den jun­gen, im Leben noch wenig fest wur­zeln­den Men­schen – sei­ner All­tags­welt, all dem, was er sei­ne Pflich­ten, Inter­es­sen, Sor­gen, Aus­sich­ten nann­te, viel mehr, als er sich auf der Drosch­ken­fahrt zum Bahn­hof wohl träu­men ließ. Der Raum, der sich dre­hend und flie­hend zwi­schen ihn und sei­ne Pflanz­stät­te wälzt, bewährt Kräf­te, die man gewöhn­lich der Zeit vor­be­hal­ten glaubt; von Stun­de zu Stun­de stellt er inne­re Ver­än­de­run­gen her, die den von ihr bewirk­ten sehr ähn­lich sind, aber sie in gewis­ser Wei­se über­tref­fen. Gleich ihr erzeugt er Ver­ges­sen, er tut es aber, indem er die Per­son des Men­schen aus ihren Bezie­hun­gen löst und ihn in einen frei­en und ursprüng­li­chen Zustand ver­setzt, – ja, selbst aus dem Pedan­ten und Pfahl­bür­ger macht er im Hand­um­dre­hen etwas wie einen Vaga­bun­den. Zeit, sagt man, ist Lethe; aber auch Fern­luft ist so ein Trank, und soll­te sie weni­ger gründ­lich wir­ken, so tut sie es dafür des­to rascher.
Der­glei­chen erfuhr auch Hans Cas­torp. Er hat­te nicht beab­sich­tigt, die­se Rei­se son­der­lich wich­tig zu neh­men, sich inner­lich auf sie ein­zu­las­sen. Sei­ne Mei­nung viel­mehr war gewe­sen, sie rasch abzu­tun, weil sie abge­tan wer­den muß­te, ganz als der­sel­be zurück­zu­keh­ren, als der er abge­fah­ren war, und sein Leben genau dort wie­der auf­zu­neh­men, wo er es für einen Augen­blick hat­te lie­gen­las­sen müs­sen.
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