Auf diesen Satz stößt Hans Castorp, wenn wir über 500 Seiten Lektüre hinter uns haben. Das dauert also. Und damit können wir eine weitere große Thematik des Romans aufgreifen, die Zeit. Weiter oben wurden die ersten Absätze des ersten Kapitels angeführt. Im Buch steht dieses erste Kapitel nicht zu Beginn, die erste Textseite ist mit »Vorsatz« überschrieben. Das Wort changiert zwischen verschiedenen Bedeutungen. Die mit »Vorsatz« überschriebenen Absätze sind »vor-gesetzt«, stehen dem Roman vor, sie geben aber auch die Vorsätze des Autors preis, sagen in ironischem Ton, was sich der Autor vorgenommen hat, mit welchem Vorsatz er sich ans Erzählen der Geschichte macht: Es ist immer wieder von der Zeit die Rede:
Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen.
Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts. Es steht jedoch so mit ihr, wie es heute auch mit den Menschen und unter diesen nicht zum wenigsten mit den Geschichtenerzählern steht: sie ist viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen; mit einem Worte: sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, – eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei.
Um aber einen klaren Sachverhalt nicht künstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie vor einer gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt … Sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht lange vorher. Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter »vorher« sie spielt? Zudem könnte es sein, daß die unsrige mit dem Märchen auch sonst, ihrer inneren Natur nach, das eine und andre zu schaffen hat.
Wir werden sie ausführlich erzählen, genau und gründlich, – denn wann wäre je die Kurz- oder Langweiligkeit einer Geschichte abhängig gewesen von dem Raum und der Zeit, die sie in Anspruch nahm? Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit, neigen wir vielmehr der Ansicht zu, daß nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei.
Im Handumdrehen also wird der Erzähler mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen und auch sieben Monate nicht. Am besten ist es, er macht sich im voraus nicht klar, wieviel Erdenzeit ihm verstreichen wird, während sie ihn umsponnen hält. Es werden, in Gottes Namen, ja nicht geradezu sieben Jahre sein!
Und somit fangen wir an.[12]
Die vielen Hinweise und Anspielungen auf das Thema »Zeit« sind evident, der Autor stimmt die Leser ein und baut Erwartungen auf. Aber der Leser sollte die mannsche Ironie nicht übersehen: Der Roman erschien 1924, die Handlung des Romans spielt zwischen 1907 und 1914, liegt also 17 bis 10 Jahre vor dem Erscheinen des Buches. Ist diese Geschichte also »sehr lange her« und schon »mit historischem Edelrost überzogen« und erfordert deshalb ein Erzählen«in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit«? Düster ließe sich prognostizieren: Ein Erzählen nach einem Krieg von einer Zeit vor diesem Krieg ist ein Erzählen vor dem nächsten Krieg – die großen Themen des Erzählens bleiben.