Hans Castorp diskutiert in den ersten Kapiteln mit seinem Vetter über das Phänomen »Zeit«. In der Philosophie wird der Zeitbegriff unter sehr vielen Gesichtspunkten betrachtet, auf die wir hier nicht eingehen können. Neben einem noch zu beleuchtenden erzähltechnischen Aspekt kommt im »Zauberberg« vor allem das Erleben der Zeit zur Sprache. Hans Castorp spekuliert somit über psychologische Zusammenhänge und Phänomene der Wahrnehmung. Führen wir uns auch dazu eine Textstelle vor Augen:
Diese Bemerkungen werden nur deshalb hier eingefügt, weil der junge Hans Castorp ähnliches im Sinne hatte, als er nach einigen Tagen zu seinem Vetter sagte (und ihn dabei mit rotgeäderten Augen ansah):
»Komisch ist und bleibt es, wie die Zeit einem lang wird zu Anfang, an einem fremden Ort. Das heißt … Selbstverständlich kann keine Rede davon sein, daß ich mich langweile, im Gegenteil, ich kann wohl sagen, ich amüsiere mich königlich. Aber wenn ich mich umsehe, retrospektiv also, versteh’ mich recht, kommt es mir vor, als ob ich schon wer weiß wie lange hier oben wäre, und bis dahin zurück, wo ich ankam und nicht gleich verstand, daß ich da war, und du noch sagtest: ›Steige nur aus!‹ – erinnerst du dich? – das scheint mir eine ganze Ewigkeit. Mit Messen und überhaupt mit dem Verstand hat das ja absolut nichts zu tun, es ist eine reine Gefühlssache. Natürlich wäre es albern, zu sagen: ›Ich glaube schon zwei Monate hier zu sein‹, – das wäre ja Nonsens. Sondern ich kann eben nur sagen: ›Sehr lange‹.«
»Ja,« antwortete Joachim, das Thermometer im Munde, »ich habe auch gut davon, ich kann mich gewissermaßen an dir festhalten, seit du da bist.« Und Hans Castorp lachte darüber, daß Joachim dies so einfach, ohne Erklärung, sagte.[13]
Das Zeitempfinden hat, folgen wir dem Roman und dieser Textstelle, also nichts mit der gemessenen Zeit zu tun, Uhren sind dafür kein Maßstab. Philosophisch lässt sich das grundlegend äußern: Es ist ein Kategorienfehler, Quantität mit Qualität zu verwechseln; Grundkategorien lassen sich nicht aufeinander abbilden. Wir gründen allerdings die Welt – vor allem die wirtschaftliche, aber inzwischen auch die wissenschaftliche – genau auf diesen Kategorienfehler.
Wie die Zeit vergeht … Wie unsere Erinnerungen sich mit diesem Erleben verweben. Apropos: Erinnern Sie sich noch an unsere Geschichte von dem kleinen Jungen? War er nicht zum jungen Mann geworden, Mitte Zwanzig? Was machte er da?
»Dieser junge Mann arbeitete, als er knapp Mitte Zwanzig war, als Volontär, als angehender Redakteur bei einer Zeitung. Mitten im Studium hatte er diese Möglichkeit ergriffen, denn er wollte nun Journalist werden, das war ein Beruf, den man lernen konnte und mit dem man verdiente. Und nun saß er in der Redaktionsstube und tat Dienst über die Feiertage zum Jahreswechsel, morgen sollte die erste Ausgabe im neuen Jahr erscheinen, und er hatte sie zu redigieren und mit Artikeln zu füllen. Die Tage zuvor war er mit Schreibblock und Stift in der Hand von Termin zu Termin gehetzt, hatte Bürgermeister Ansprachen halten gehört und Chöre Lieder singen, hatte Wohltätigkeitsbazare besucht und die Polizei nach besonderen Vorkommnissen befragt – bis er sich bei all dem einen Schnupfen geholt hatte. Und husten musste er auch. Und in der Redaktionsstube war es ungeheizt und kalt, dass seine Lunge pfiff. Aber er achtete nicht darauf und arbeitete brav weiter und freute sich auf den Feierabend, denn zuhause wartete ein Buch auf ihn, das er in diesen Tagen las, ein eigentümliches Buch –«
Aber zurück zum Thema, wir sollten die nächste und letzte Station ansteuern:
4. Station: Erzählen und Zeit
Für Thomas Mann spielt eine zentrale Frage der »Menschwerdung« immer wieder eine Rolle, die Frage nach der richtigen Form, in die wir das Leben gießen. Die extremen Pole bilden »Überform« und »Unform«. Mann schrieb 1925 im Rückblick auf den Roman »Der Zauberberg«: »Form ist etwas Lebensgesegnet-Mittleres zwischen Tod und Tod: zwischen dem Tode als Unform und dem Tode als Überform, zwischen Auflösung also und Erstarrung, zwischen Wildheit und Erstorbenheit.«[14]
Die richtige Form ist selbstredend auch das, was der Dichter für sein Werk anstrebt. Wie schwer ihm das fallen kann, hat Thomas Mann in einer Erzählung über einen bedeutenden Dichter festgehalten. Es ist hier die Rede von einem Dichter, der an einem Schauspiel arbeitet und sich damit schwertut. Und es ist die Rede auch von einem Gegenpart dieses Dichters. Welche Personen gemeint sein könnten?
Er stand vom Schreibtisch auf, von seiner kleinen, gebrechlichen Schreibkommode, stand auf wie ein Verzweifelter und ging mit hängendem Kopfe in den entgegengesetzten Winkel des Zimmers zum Ofen, der lang und schlank war wie eine Säule. Er legte die Hände an die Kacheln, aber sie waren fast ganz erkaltet, denn Mitternacht war lange vorbei, und so lehnte er, ohne die kleine Wohltat empfangen zu haben, die er suchte, den Rücken daran, zog hustend die Schöße seines Schlafrockes zusammen, aus dessen Brustaufschlägen das verwaschene Spitzenjabot heraushing, und schnob mühsam durch die Nase, um sich ein wenig Luft zu verschaffen; denn er hatte den Schnupfen wie gewöhnlich.
Das war ein besonderer und unheimlicher Schnupfen, der ihn fast nie völlig verließ. Seine Augenlider waren entflammt und die Ränder seiner Nasenlöcher ganz wund davon, und in Kopf und Gliedern lag dieser Schnupfen ihm wie eine schwere, schmerzliche Trunkenheit. Oder war an all der Schlaffheit und Schwere das leidige Zimmergewahrsam schuld, das der Arzt nun schon wieder seit Wochen über ihn verhängt hielt? Gott wußte, ob er wohl daran tat. Der ewige Katarrh und die Krämpfe in Brust und Unterleib mochten es nötig machen, und schlechtes Wetter war über Jena, seit Wochen, seit Wochen, das war richtig, ein miserables und hassenswertes Wetter, das man in allen Nerven spürte, wüst, finster und kalt, und der Dezemberwind heulte im Ofenrohr, verwahrlost und gottverlassen, da es klang nach nächtiger Heide im Sturm und Irrsal und heillosem Gram der Seele. Aber gut war sie nicht, diese enge Gefangenschaft, nicht gut für die Gedanken und den Rhythmus des Blutes, aus dem die Gedanken kamen …
Das sechseckige Zimmer, kahl, nüchtern und unbequem, mit seiner geweißten Decke, unter der Tabaksrauch schwebte, seiner schräg karierten Tapete, auf der oval gerahmte Silhouetten hingen, und seinen vier, fünf dünnbeinigen Möbeln, lag im Lichte der beiden Kerzen, die zu Häupten des Manuskripts auf der Schreibkommode brannten. Rote Vorhänge hingen über den oberen Rahmen der Fenster, Fähnchen nur, symmetrisch geraffte Kattune; aber sie waren rot, von einem warmen, sonoren Rot, und er liebte sie und wollte sie niemals missen, weil sie etwas von Üppigkeit und Wollust in die unsinnlich-enthaltsame Dürftigkeit seines Zimmers brachten …
Er stand am Ofen und blickte mit einem raschen und schmerzlich angestrengten Blinzeln hinüber zu dem Werk, von dem er geflohen war, dieser Last, diesem Druck, dieser Gewissensqual, diesem Meer, das auszutrinken, dieser furchtbaren Aufgabe, die sein Stolz und sein Elend, sein Himmel und seine Verdammnis war. Es schleppte sich, es stockte, es stand — schon wieder, schon wieder! Das Wetter war schuld und sein Katarrh und seine Müdigkeit. Oder das Werk? Die Arbeit selbst? Die eine unglückselige und der Verzweiflung geweihte Empfängnis war?
Er war aufgestanden, um sich ein wenig Distanz davon zu verschaffen, denn oft bewirkte die räumliche Entfernung vom Manuskript, da man Übersicht gewann, einen weiteren Blick über den Stoff, und Verfügungen zu treffen vermochte. Ja, es gab Fälle, wo das Erleichterungsgefühl, wenn man sich abwendete von der Stätte des Ringens, begeisternd wirkte. Und das war eine unschuldigere Begeisterung, als wenn man Likör nahm oder schwarzen, starken Kaffee … Die kleine Tasse stand auf dem Tischchen. Wenn sie ihm über das Hemmnis hülfe? Nein, nein, nicht mehr! Nicht der Arzt nur, auch ein zweiter noch, ein Ansehnlicherer, hatte ihm dergleichen behutsam widerraten: der andere, der dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst …[15]
- [13] a. a. O., S. 111 f.
- [14] Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 11, Reden und Aufsätze, 3. Frankfurt am Main 1974. S. 371. Vgl. Wysling, Hans: Der Zauberberg. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. Frankfurt am Mai: Fischer, 2005(3). S. 403.
- [15] Mann, Thomas: Schwere Stunde. In: ders.: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer, 1963. S. 294 f.