Um welche Dichter es ging, lässt sich an der oben beschriebenen Ambition Manns als Autor festmachen: Er denkt sich in Schillers quälenden Schaffensprozess ein, der sich an Goethe reibt und abarbeitet. Wenn ein Autor wie Thomas Mann sich in einen Klassiker hineinversetzt, so auch deshalb, weil er annimmt, das mit Fug und Recht zu können und über dessen Schreibprobleme im Bilde zu sein.
Der Schreibqual versuchte Thomas Mann mittels seiner eigenen Vorgehensweise zu entgehen: hochdiszipliniertes Arbeiten. Jeden Vormittag schrieb er, die Familie durfte ihn unter keinen Umständen dabei stören, pro Tag rang er sich eine druckreife Seite ab; die Nachmittage waren Studien vorbehalten. Nach Musenkuss klingt so etwas nicht, eher nach harter Arbeit. Für diejenigen, die trotzdem noch an Inspiration, Genialität, Eingebung und Musenküsse glauben wollen, noch eine weitere Stelle aus dieser Erzählung:
Und so war es, dies war die verzweifelte Wahrheit: Die Jahre der Not und der Nichtigkeit, die er für Leidens- und Prüfungsjahre gehalten, sie eigentlich waren reiche und fruchtbare Jahre gewesen; und nun, da ein wenig Glück sich herniedergelassen, da er aus dem Freibeutertum des Geistes in einige Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung eingetreten war, Amt und Ehren trug, Weib und Kinder besaß, nun war er erschöpft und fertig. Versagen und verzagen — das war’s, was übrigblieb.
Er stöhnte, preßte die Hände vor die Augen und ging wie gehetzt durch das Zimmer. Was er da eben gedacht, war so furchtbar, daß er nicht an der Stelle zu bleiben vermochte, wo ihm der Gedanke gekommen war. Er setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien hangen und starrte trüb auf die Diele nieder.[16]
Mann gibt in diesen Zeilen die vollkommene Beschreibung des Künstlergenies wider, ganz der Melancholie-Tradition entsprechend.[17]
Kommen wir noch einmal auf die Zeit zu sprechen (die als erzählte Zeit immer schon zu den Topoi der Melancholie-Literatur gehört). Wir brachten sie in Bezug zur richtigen Form. Wie Thomas Mann mit der Zeit im »Zauberberg« als Erzähler umgeht, wie er Zeit erzählt und formt, ist erstaunlich. Wir wissen, Hans Castorp verbringt sieben Jahre in dem Davoser Sanatorium. Nun könnte man annehmen, dass jedem Jahr etwa gleich viel Seiten des Romans gewidmet werden. Doch dem ist nicht so: Der Anfang des Romans nimmt sich viel Zeit, da werden noch Stunden und Tage gezählt, die Zeit wird sozusagen in kleiner Münze bezahlt. Je weiter der Roman voranschreitet, um so generöser geht er mit der messbaren Zeit um, die Zeit wird nun – um in dem Bild zu bleiben – mit immer größeren Scheinen verrechnet.
Thomas Mann spielt so mit der Zeiterfahrung des Lesers. Denn schließlich ist ja auch die Lektüre eines Romans eine Weise, seine Zeit zu verbringen, zu gestalten oder »totzuschlagen«. So erzählt Thomas Mann also unsere Zeit, lässt sie vergehen und stillstehen. Hans Castorp hat auf dem Zauberberg zwischen philosophischen Positionen in der Gestalt von Vorbildern zu wählen, uns wird erzählt, wie Castorp die Wahl nicht recht zu treffen weiß und darüber Zeit gewinnt und Zeit verliert.
So wie wir, wenn wir Romane lesen. Warum tun wir das? Weil wir so Mensch werden, weil wir Wesen sind, die werden, wer sie sind, weil sie sich erzählen. Wir erzählen uns – anderen und uns selbst. Damit schaffen wir uns, machen uns einen Begriff von uns selbst und von der Welt, in der wir leben. Erzählend schaffen wir diese Welt und uns. Und weil das nicht so einfach ist, weil Erzählen gelingen oder scheitern kann, suchen wir Vorbilder für das Erzählen. Auch deshalb lesen wir Romane, Erzählungen, Gedichte und Berichte, gehen ins Theater, schauen Filme, hören der Oma zu, die uns Märchen erzählt …
Aber ein großer Schriftsteller schreibt natürlich anders Geschichten, als wir sie erzählen. Das fängt im übrigen schon bei seiner Werkzeugen auf der technisch-handwerklichen Ebene an. In dem Band »Thomas Mann. Ein Schriftsteller setzt sich in Szene«[18] zeigen Fotografien und Zeichnungen den berühmten Autor, und es gibt das eine und andere Bild zu sehen, das den Schriftsteller bei der Arbeit in Szene setzen will: Mann hält darauf stets einen Stift in der Hand, oft edle Füller. Hin und wieder sieht man ihn beim Diktat, ein Foto zeigt seine Ehefrau Katja hinter einer Schreibmaschine. An einer Schreibmaschine sitzend sieht man Thomas Mann selbst nicht, und auch auf seinen Schreibtischen, die in den Bilder zu sehen sind, steht nirgends eine Schreibmaschine im Bild. Der gleiche Befund ergibt sich bei einer Abfrage beim elektronischen Bildarchiv des Thomas-Mann-Archivs an der ETH Zürich.[19] Offenkundig lässt sich viel auch langsam schreiben, und gut vielleicht sogar besser – das jedenfalls suggeriert diese Selbstinszenierung des Großschriftstellers als solcher wohl. Diese und andere Selbstinszenierungen hingegen sagen nicht viel über ein Werk; die Verfahren des Schreibens, auch die Wahl der technischen Schreibmittel legen indes Spuren ins Erzählen. Aber das ist ein ganz anderes Thema …
Und da war ja noch was. Ach ja, ich schulde Ihnen noch das Ende jener kleinen, unbedeutenden Geschichte von dem kleinen Jungen, der ein Bild malte, auf dem er sich als Schriftsteller sah. Aus dem kleinen Jungen war ein junger Mann geworden, der als Volontär arbeitete, als angehender Zeitungsmann. Tat er zuletzt nicht Dienst über Neujahr in der ungeheizten Redaktionsstube?
»Seine Lunge pfiff. Aber er achtete nicht darauf und arbeitete brav weiter und freute sich auf den Feierabend, denn zuhause wartete ein Buch auf ihn, das er in diesen Tagen las, ein eigentümliches Buch … Dieses Buch begleitete ihn durch die folgenden Wochen, in denen der Husten nicht weggehen wollte. Dieser Husten, so fanden dann die Ärzte heraus, war kein einfacher Husten, der junge Mann habe Asthma. Darüber dachte der junge Mann einige Zeit nach; und dann wunderte ihn diese Diagnose nicht allzu sehr, er las ja in diesem Buch, das hieß: ›Der Zauberberg.‹
Was aus dem jungen Mann wohl geworden ist? Dreimal sieben Jahre später besaß er einige Bücher, hatte zu wenige selbst geschrieben, auch sein erstes schon am Computer getippt, und inzwischen war er Professor. Und selten rauche ich Pfeife.«
- [16] a. a. O., S. 296.
- [17] vgl. das Kapitel III, 4 »Melancholie als Genialität« in: Friedrich, Volker. Melancholie als Haltung. Berlin: Gatza, 1991. S. 95—111, insbesondere S. 101.
- [18] Görner, Rüdiger; Latifi, Kaltërina: Thomas Mann. Ein Schriftsteller setzt sich in Szene. Darmstadt: WBG Theiss, 2021.
- [19] Ball, Rafael (Hg.): Thomas-Mann-Archiv. Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Bibliothek. Zürich 2024. https://tma.e-pics.ethz.ch/login/welcome.jspx (Abruf am 20.12.2024).