Manche sagen, diese riesige, schöne, alte Bibliothek trage einen Namen, man nenne sie: die Welt. Das Gemurmel, das Sie in der Bibliothek, der Welt als Text hören, gibt es, so lange man schreibt. Dieses Gemurmel könnte genannt werden: Intertextualität.
Womöglich stimmen Sie mir zu: Diese Allegorie, die ich Ihnen gerade vor das innere Auge geführt habe, lässt sich mit einer Expedition in eine Bibliothek leichter ausmalen denn mit einer Surftour durchs Internet. Aber vielleicht könnten wir in diesem riesigen Datenspeicher »Internet« ebenfalls Gemurmel belauschen, Subtexte, die niemand intendiert hat und die wohl nie jemand lesen wird, lesen kann.
Das Phänomen »Intertextualität« – das Wort klingt gewichtig und modern – kam vermutlich mit dem zweiten Text in die Welt, der geschrieben wurde, das Phänomen dürfte also so alt sein wie das Schreiben selbst. Es verweist auf das, was zwischen den Texten und den Zeilen geschieht. Aber das ist nur ein Aspekt, der mit dem Begriff verbunden wird. Schlägt man den Eintrag zu »Intertextualität« in Fachlexika nach, dann bekommt man es mit einer Fülle von Interpretationen zu tun. Gert Ueding, der morgen den letzten Plenarvortrag halten wird, hat das »Historische Wörterbuch der Rhetorik« herausgegeben. Darin wird in den ersten Sätzen des Eintrages zu »Intertextualität« bereits auf die Vieldeutigkeit dieses Begriffes abgehoben:
»Intertextualität ist in der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion einer der am häufigsten verwendeten Begriffe, um Relationen zwischen Texten zu erfassen. Jedoch ist die Begriffsverwendung irritierend, da mit ›I.‹ eine Reihe von z. T. ganz unterschiedlichen Theorieansätzen auf recht verschiedenartigen Forschungsfeldern (wie zum Beispiel Rhetorik, Komparatistik, Einflussforschung, Hermeneutik) bezeichnet werden, was hauptsächlich daran liegt, daß der zugrundeliegende Textbegriff selbst umstritten ist.«[1]
Da hams’es, Ramses. Dann sind wir eben so frei, und picken uns eine der Möglichkeiten heraus, die uns zupass kommt. Als Rhetoriker interessiert mich die Intertextualität insbesondere im Sinne einer Wechselwirkung zwischen Texten, schließlich verhandelt die Rhetorik, wie wir mit kommunikativen Mitteln Wirkungen erzielen, wie wir sie persuasiv, also überzeugend einsetzen und wirkungsvoll kommunizieren. Welche Rolle spielt dabei das, was zwischen den Texten und zwischen den Zeilen wirkt?
Ich bin so frei und nehme Bezug auf den Ankündigungstext für diesen Vortrag. Da schrieb ich: »Wer schreibt, der gestaltet mit Worten. Wer gelesen werden möchte, der will Wirkungen hervorrufen – auf Leser, auf Hörer und auf Autoren. So begibt sich, wer schreibt, in ein Reich der Wechselwirkungen zwischen seinen eigenen Vorstellungen, die er schreibend äußert und gestaltet und damit erweitert und verändert, und den Vorstellungen anderer, auf die er schreibend einwirkt und die auf sein Schreiben durch Lektüre einwirken. Jeder Text reiht sich ein in den vielstimmigen Chor der Texte, schafft zu ihnen direkt oder indirekt Bezüge.«
Diese Vielstimmigkeit hebt uns auf in einem Gespräch über die Generationen und Zeiten hinweg. Je nachdem, in welcher TextWelt wir uns bewegen, folgt die Vielstimmigkeit anderen Regeln. Die Literatur spielt manchmal Verstecken mit der Vielstimmigkeit, der Bezugnahme, das erhöht das Vergnügen des geschulten Lesers. Die Wissenschaft hingegen will die Vielstimmigkeit als Quelle nutzen und Bezüge offenlegen. Aber das kann scheitern.