Soweit Laurence Sterne. Warum ich Ihnen diese Stelle vorgelesen habe? Es geht mir um diese »absonderlichen Ideenverknüpfungen«, die wir vornehmen und damit unsere Vorurteile nähren, und es geht mir darum, dass Laurence Sterne als Literat viel entspannter mit einem Zitat oder einer Paraphrase umgehen konnte, als man das in der Wissenschaft darf. Bei John Locke fand ich diese Stelle so nicht, müsste das aber noch eingehender prüfen. Bislang jedenfalls scheint mir diese Bezugnahme von Sterne auf Locke bestenfalls dem Sinn nach belegbar zu sein. Aber das macht ja im Spiel eines Romans nichts, der Ich-Erzähler darf irren oder schlecht paraphrasieren, wenn sich nur in den Dienst der Narration stellt. Wie sieht das aber in der Wissenschaft aus?
Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus meiner Disziplin, der Rhetorik geben. In einem Lehrbuch führt dessen Autor den »rhetorischen Imperativ« ein.
»Rhetorischer Imperativ« – das erinnert uns natürlich an den »kategorischen Imperativ« von Immanuel Kant. Das muss dem Autor dieses Lehrbuchs klar gewesen sein, das wird dieser Autor gewollt haben. Es handelt sich bei diesem Lehrbuch-Autor schließlich um Joachim Knape, seines Zeichens Inhaber einer der beiden Professuren für allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen. Joachim Knape hat Germanistik, Politikwissenschaften, Philosophie und katholische Theologie studiert, er ist selbstverständlich ein hochgebildeter und belesener Mensch. Keine Frage, wenn so jemand einen »rhetorischen Imperativ« einführt, dann ist das eine bewusste Anspielung, eine gewollte Referenz auf Kants kategorischen Imperativ.
In der »Werkausgabe« zu Kant findet man den kategorischen Imperativ in zwei Fassungen. Die erste Fassung in der »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« lautet: »(…) handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«[3]In der »Metaphysik der Sitten« selbst finden wir diese Version: »(…) handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann.«[4]
Mir geht es an dieser Stelle mit diesen Zitaten nicht um Sinn und philosophische Bedeutung des kategorischen Imperativs, sondern nur um den Stil, die Wendungen, den Klang. Diesen Klang haben Sie nun im Ohr. Nun hören wir uns an, wie der »rhetorische Imperativ« von Joachim Knape klingt: »Perorare aude.– Habe Mut, dich deiner eigenen Ausdrucksfähigkeit offen zu bedienen!«[5] Lassen wir beiseite, dass wir in Knapes »rhetorischem Imperativ« keine inhaltliche Anlehnung an und keine Bezugnahme auf Kants kategorischen Imperativ finden können. Lassen wir auch beiseite, dass Autoren selten klug beraten sind, im Windschatten solch berühmter Wendungen ein eigenes Lüftchen zu wedeln. Konzentrieren wir uns nur auf den Klang der beiden Wendungen: Da ist nichts Gemeinsames, wir haben es stilistisch mit einem völlig anderen Ton zu tun. Womöglich erinnert Sie die Knapesche Stilistik aber an einen anderen Satz, den wir bei Kant finden können, nämlich an Zeilen aus dem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«. Dieser Aufsatz beginnt mit den berühmten Worten: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«[6] Und nun kommen die entscheidenden Sätze: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«[7] Das war Kant.
»Perorare aude.– Habe Mut, dich deiner eigenen Ausdrucksfähigkeit offen zu bedienen!«[8], lautet Joachim Knapes »rhetorischer Imperativ«. Und er lehnt sich eben an Kants Satz an: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«[9] Lassen wir beiseite, dass Kants Worte klar und einfach, ja, elegant formuliert und Knapes Worte stilistisch eher ungeformt sind: Knapes »rhetorischer Imperativ« hat weder stilistisch noch inhaltlich irgendetwas mit Kants »kategorischem Imperativ« zu tun, Joachim Knape hat schlichtweg zwei der bekanntesten Kant-Zitate durcheinander gebracht.
Wie sollen wir diese Form der Bezugnahme nennen? Fehlgeschlagene Referenz? Gescheiterter Bezug? Eine Verwechslung in der Referenz? Einen Paraphrasen-Sprung? Was bringt uns dazu, beim Schreiben in solch eine Falle zu laufen? Was den geschilderten Fall betrifft, so kann ich über die Ursachen nur mutmaßen. Ich gehe davon aus, dass Joachim Knape die beiden Kant-Zitate kennt, wahrscheinlich auch die Texte im Original gelesen hat. Als er sein Lehrbuch schrieb, hat er offensichtlich nicht geprüft, ob er etwas durcheinander bringt, er kam womöglich gar nicht auf die Idee, dass sein Wissen, sein Referenzsystem ihm diese Falle stellen könnte, er wird sich solch einen Irrtum gar nicht zugetraut haben. Wie es oft so kommt: Auch seine Schüler trauen Joachim Knape solch einen Irrtum nicht zu und zitieren den »rhetorischen Imperativ«, arbeiten mit dieser Idee. Dieses, sagen wir, Missgeschick, das dem Tübinger Professor unterlaufen ist, ist – davon darf ausgegangen werden – kein Einzelfall in der Wissenschaft. Womöglich ließe sich eine sehr interessante Geschichte der Wissenschaft schreiben entlang all ihrer fehlgeschlagenen Referenzen, ihrer gescheiterten Bezüge, ihrer Zitatverwechselungen.
Und hier kleidet sich eine klassische Sünde passend für den Intellektuellen: Hochmütig halten wir uns des Irrtums nicht fähig. »Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr«, weiß ein Sprichwort.[10] Aber genau von unserer Irrtumskraft müssen wir immer ausgehen, wir können uns unseres Wissens nie sicher sein. Dies ist der wesentliche Grund, uns intellektuelle Bescheidenheit aufzuerlegen.
- [3] Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werkausgabe, Bd. 7. Frankfurt am Main 1982(6). S. 51.
- [4] ders: Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe, Bd. 8. Frankfurt am Main 1982(4). S. 331.
- [5] Knape, Joachim: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000. S. 33.
- [6] Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ders.: Werkausgabe, Bd. 11, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Teil 1. Frankfurt am Main 1982(4). S. 53.
- [7] ebd.
- [8] Knape, a. a. O.
- [9] Kant, a. a. O.
- [10] Wander, Karl Friedrich Wilhelm (Hg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. 5. Bd. Kettwig, Stuttgart 1987. Sp. 963.