Um es mit Karl Poppers Worten auszudrücken: »Jeder Intellektuelle hat eine ganz spezielle Verantwortung. Er hat das Privileg und die Gelegenheit, zu studieren. Dafür schuldet er es seinen Mitmenschen (oder ›der Gesellschaft‹), die Ergebnisse seines Studiums in der einfachsten und klarsten und bescheidensten Form darzustellen. Das Schlimmste – die Sünde gegen den heiligen Geist – ist, wenn die Intellektuellen es versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als große Propheten aufzuspielen und sie mit orakelnden Philosophien zu beeindrucken. Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann.«[11] Soweit Karl Popper, der damit in meinen Augen anschließt an die Rhetorik, wissentlich oder nicht. Um das kurz zu erläutern: Popper hat sich gern und intensiv mit der Antike befasst, ich fand bislang keinen Beleg dafür, dass er sich mit den Sophisten beschäftigt hat, also den frühen Rhetorikern. Deren Wahrheitsbegriff ist dem seinen sehr nahe, lehnten die Sophisten doch absolute Wahrheit oder zumindest die Möglichkeit eines Zugangs zu ihr ab.
»Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann.« Unverständlichkeit wäre also zu allem Überfluss auch ein Mangel an Arbeitsintensität.
Popper selbst hat im übrigen einmal beispielhaft dargestellt, was er für Jargon hält und wie man ihn aufbrechen kann. In einem privaten Brief wurde er gefragt, warum er mit einem Philosophen wie Jürgen Habermas hadere. Poppers Antwort war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, wurde aber von dem Briefeempfänger an eine Zeitung gegeben und veröffentlicht. Daraufhin hat Popper diesen Brief in einem Buch selbst veröffentlicht und mit Erläuterungen versehen; dieser Essay heißt »Gegen die großen Worte«[12]. Popper nimmt dort Stellen eines deutschen Textes von Habermas und übersetzt sie – ins Deutsche, will sagen: ins Verständliche.
Bei Habermas heißt es:
»Theorien sind Ordnungsschemata, die wir in einem syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren.«
Poppers Übersetzung lautet:
»Theorien sollten nicht ungrammatisch formuliert werden; ansonsten kannst Du sagen, was Du willst.«[13]
Bei Habermas geht es so weiter:
»Sie erweisen sich für einen speziellen Gegenstandsbereich dann als brauchbar, wenn sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt.«
Popper übersetzt das wie folgt:
»Sie sind auf ein spezielles Gebiet dann anwendbar, wenn sie anwendbar sind.«[14]
Das sind zwei von mehreren dieser Übersetzungen. Ich habe lange darüber nachgeht, ob Popper Habermas unrecht damit getan hat. Nein, lautet darauf meine Antwort.
Worauf will ich mit diesen Beispielen hinaus: Zwischen Stilistik und Ethik gibt es in der Wissenschaft eine enge Verknüpfung. Wissenschaftsethische Anforderungen erfüllen sich in der Art, wie wir schreiben. Klarheit, Deutlichkeit, Verständlichkeit, sie sind die Grundlagen dafür, dass Argumente geprüft werden können, dass Kritik geübt werden kann. So bildet Stilistik letztendlich eine der Grundlagen dafür, dass ein wissenschaftlicher Diskurs vonstatten gehen und dass das Projekt der Annäherung an die Wahrheit voranschreiten kann. Der Diskurs zwischen Texten in dieser Weise darf als die der Wissenschaft angemessene Intertextualität angesehen werden.
Abschweifung
Nun habe ich ein paar Ausführungen zum Scheitern von Bezugnahmen, von Bezügen, Referenzen, Zitaten gemacht, um darzustellen, wie sich das in wissenschaftsethische Überlegungen einbinden lässt.
Könnte ich das auf mich selbst anwenden? Kennen Sie das? Im Vorfeld einer Tagung schreiben Sie für Ihren Vortrag eine Ankündigung. Sie sind, Monate vor der Tagung, noch nicht am Ende Ihrer Überlegungen angelangt, sind aber voll des Überschwanges und schreiben einen vollmundigen Text über das, was Sie erzählen werden. Sie blicken in die Zukunft, die ihrer Natur nach stets offen ist. Und nun schaue ich auf meine Ankündigung in dieser schönen Broschüre und sehe: Aha, das hatte ich also vor.
Nun ja, eine der schönsten Formen für das gelingende Scheitern von Bezugnahmen habe ich noch nicht vorgestellt: die Abschweifung … Wirklich: Habe ich sie Ihnen nicht vorgestellt? Zwischen den Zeilen, zwischen den Texten, im Labyrinth der unendlichen Bibliothek einer Welt als Text, da läuft man an so manch vielstimmigen, mehrdeutigen Gemurmel glatt vorbei, voller Irrtumskraft, all diese »absonderlichen Ideenverknüpfungen«, »verquere(n) Handlungen«, »mögliche(n) Quellen des Vorurtheils«.
Ob ich alles einfach und klar gesagt habe? Oder sollte ich weiterarbeiten, bis ich es einfach und klar sagen kann?
Ihnen, verehrte Damen, werte Herren, und, in aller Bescheidenheit auch mir selbst, also uns allen wünsche ich für diese beiden Tage, dass wir vielen Wechselwirkungen, Vielstimmigkeiten, Bezügen und Bildung begegnen werden, zwischen all den Zeilen, zwischen all den Texten.